Drei Reihen übereinander gestapelter Europaletten, darüber blaue, grüne und graue Lego-Platten und junge Menschen, die darauf sitzen und jeweils ein Infoblatt lesen.
Bildrechte: Courtesy die Künstlerin, Foto: Günter Kresser

Natascha Sadr Haghighian: Pssst Leopard 2A7+, 2013–heute, Ausstellungsansicht ACCENTISMS, Taxispalais Kunsthalle Tirol, 2017.

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Pfeifen und Panzer: Natascha Sadr Haghighian im Lenbachhaus

Auf der Biennale 2019 zeigte sie sich mit Stein auf dem Kopf, eine Geste der Verweigerung. In ihrer Ausstellung im Lenbachhaus ermuntert Natascha Sadr Haghighian nun zu neuen Blicken auf Themen wie Waffenexporte oder Migration.

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Ein Banner aus Stoff hängt von der Decke, das bräunliche Muster ist eine Mischung aus Vogelfedern und Fell, in der Mitte prangt das Foto einer großen, knallroten Trillerpfeife. "Füchse der Abschiebung" heißen bei den Asylsuchenden die Polizisten, die nachts kommen, um aus ihrem selbsternannten "Hühnerstall" ein Huhn mitzunehmen. Die Geflüchteten warnen einander, indem sie mit der "Trillerpfeife der Solidarität" Alarm schlagen.

Spätestens seit sie 2019 mit einem Stein auf dem Kopf auf der Biennale von Venedig aufgetreten ist, kennt man Natascha Sadr Haghighian in der Kunstszene. In Venedig trat sie unter dem Pseudonym Natascha Süder Happelmann auf, eine Art Best-Of der Verballhornungen ihres iranischen Namens. Der steinartige Helm war eine Geste der Verweigerung, auf keinen Fall wollte die deutsch-iranische Künstlerin als Repräsentantin Deutschlands auftreten. Im Lenbachhaus in München sind nun Arbeiten Haghighians rund um die Themen Trillerpfeife und Panzer, Migration und Leibeigenschaft zu sehen.

Instrument mit Migrationsgeschichte

Die Trillerpfeife steht im Zentrum gleich mehrerer Arbeiten der Ausstellung von Natascha Sadr Haghighian im Münchner Lenbachhaus. Als Signalinstrument ist sie Symbol für Tumult und Ordnung zugleich, für Aufruhr und Störung der bestehenden Ordnung. Die Pfeife selbst ist unparteiisch, doch je nachdem, wer hineinbläst, verändert sich ihre Bedeutung komplett: "Die Trillerpfeife ist seit dem 19. Jahrhundert auch ein Instrument, das die Autoritäten benutzen", erzählt Natascha Sadr Haghighian. "Es wurde eine Erbse in das Instrument eingegeben, um eine höhere Signalwirkung durch das Oszillieren des Klangs zu erzeugen. Die Polizei hat dieses Instrument damals dankbar aufgegriffen. Was aber interessant ist: Dass es ein Instrument ist, das tatsächlich selbst auch eine Migrationsgeschichte hat. Es bleibt nicht in den Händen der Autoritäten, sondern wird genauso auch im Protest gegen sie benutzt."

In Haghighians Arbeit "Tribute to Whistle", die in ähnlicher Form auch auf der Biennale in Venedig 2019 zu sehen war, kann jeder selbst erfahren, wie unterschiedlich ein und derselbe Klang sich ausnehmen kann. Aus 48 Lautsprechern erklingt Musik rund um den Sound der Trillerpfeife. Trillerpfeifen klingen überall auf der Welt ziemlich gleich. Aber das, was man mit diesem Klang verbindet, kann sehr verschieden sein: Mal meint man in inmitten einer Gewerkschaftsdemo zu stehen, mal im Karneval von Rio, dann wieder fühlt man sich seltsam unangenehm berührt, und erinnert sich – je nach biografischem Hintergrund – an ungeliebte Sportstunden oder Morgenappelle im Pionierlager.

Bildrechte: © Xander Heinl, Foto / Photo: Jasper Kettner
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Natascha Sadr Haghighian/ Natascha Süder Happelmann: Natascha Süder Happelmann und Heiko Maas, Deutscher Pavillon, 58. Biennale von Venedig, 2019

Vielstimmige Geschichten

Haghighian wehrt sich mit ihrer Kunst gegen die Einseitigkeit von Geschichten, es geht ihr um den Perspektivwechsel, um parallel existierende Narrative. Besonders gern setzt sie dabei Sound ein. Mit der Arbeit "Pssst Leopard 2 A7+" im Foyer des Lenbachhauses unternimmt die Künstlerin den Versuch einer Verschiebung, einer Migration auf klanglicher Ebene: Auf drei Lagen Europaletten ist eine Fläche aus Lego-Platten in Grün-Blau-Grau gelegt. Die Ausmaße der Plattform entsprechen mit dreieinhalb auf elf Metern denen des Kampfpanzers Leopard 2 A7+, der wenige Kilometer entfernt von der Firma Krauss-Maffei Wegmann in München produziert wird.

Im Boden versteckte Buchsen führen ins Klangarchiv der Konstruktion: "Dieser Kampfpanzer Leopard 2 A7+ ist speziell für Einsätze im urbanen Raum gedacht. Es geht um die Befriedung von Protesten und Aufständen im urbanen Raum, und das ist eigentlich eine klangliche Studie dieser Frage: Wie möchte man damit umgehen, dass der städtische Raum militarisiert wird und wie könnte man den entmilitarisieren?"

Waffenexporte, Abschiebungen, Sklavenhandel

Haghighian macht vor, wie es gehen kann: Ihr "Psst Leopard 2 A7+" ist Sitzgelegenheit, Ruhepol und Soundinstallation. Optisch ist das wie viele ihrer Arbeiten sehr zurückgenommen, kühl, fast spröde, es geht ganz um den Klang. Mithilfe des Klanges verändert sie den harten, metallischen, fürs Nicht-Nachgeben gebauten Körper, lässt ihn vor dem inneren Auge größer und kleiner werden, bedrohlich oder zahm.

Natascha Sadr Haghighians Arbeiten knüpfen an die Realität an, an Waffenexporte und Abschiebungen, an die deutsche Beteiligung am Sklavenhandel oder die prekäre Lage heutiger Migranten. Doch es geht ihr nicht um Dokumentation oder Information. Es geht ihr darum, Dinge anders zu sehen, neu wahrzunehmen. Das schließt auch den Schmerz ein, von dem der Ausstellungstitel spricht: "Jetzt wo ich dich hören kann, tun meine Augen weh".

Die Ausstellung "Natascha Sadr Haghighian: Jetzt wo ich dich hören kann, tun meine Augen weh (Tumult)" ist noch bis 08. Oktober 2023 im Lenbachhaus München zu sehen.

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