Benjamin von Stuckrad-Barre, Autor, nimmt am Gala-Screening des Films "Babylon - Rausch der Ekstase" im Delphi-Filmpalast am Zoo teil.
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Führt seinen Erzähler in die "Höhle der Blöden": Benjamin von Stuckrad-Barre

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"Noch wach?": Der neue Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre

Mit einer Startauflage von 160.000 Exemplaren ist gestern das schon im Vorfeld vieldiskutierte neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre in den Handel gekommen. Der Roman "Noch wach?" ist eine komische Mediensatire mit ernstem Hintergrund.

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Irgendwann im Verlauf dieses Romans fragt sich der Erzähler, der viele Ähnlichkeiten mit Benjamin von Stuckrad-Barre aufweist, verzweifelt: "In was war ich da nur hineingeraten?" Er sieht "Gerichtsbilder" vor sich und sagt sich: "Ich würde zu all dem dringend mal meinen Anwalt befragen müssen." Dieser Anwalt des Erzählers ist spezialisiert auf Medien- und Persönlichkeitsrecht, er hat diesen Beruf wegen Heinrich Bölls Roman "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" ergriffen. Als Jurist zitiert er gern Heinrich Bölls Vorbemerkung: "Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich."

Wer literarischen Figuren solche Sätze in den Mund legt, macht klar: Dieser Roman reflektiert seine juristische Rezeption gleich mit. Das scheint auch geboten, gehört doch zu den Kuriosa rund um die von Mutmaßungen begleitete Veröffentlichung von "Noch wach?" eine "Presseinformation" des Anwalts von Julian Reichelt. Darin heißt es, dass die kursierenden Spekulationen, der Roman "zeichne das Wirken" Mathias Döpfners nach sowie das des früheren Chefredakteurs der Bild-Zeitung, "mit Erscheinen des Buches ein Ende haben werden".

Ein "Marktführerherrenmensch" in einer "Hetzmanufaktur"

Naja, nee, geht so, möchte man in der flapsigen Art des Erzählers entgegnen. Dafür erinnert der fiktive "Brüllsender" bzw. "Trashsender", den der namenlose Chefredakteur in einem Berliner Hochhaus da führt, dann doch zu sehr an "Bild-TV". Der "Turm des Bösen" lässt einen durchaus an das Springer-Hochhaus denken. Ein "Haus des Schmutzes", eine "Höhle der Blöden", eine "Drecksbude", eine "Hetzmanufaktur", ein "Alarm-Puff", diese Worte finden sich in "Noch wach?". Was dort auf Sendung geht, bestimmt ein paranoider "Klickgoldfaschist" und "abstoßender Telegramgruppenheiliger", der in all seiner "hyperbetonten Alpha-Männlichkeit" jungen Kolleginnen nächtens anzügliche Kurznachrichten schickt, der sie manipuliert und ein System des "sexgesteuerten Machtmissbrauchs" etabliert.

Gedeckt wird dieser Verbalradikalinski dabei vom CEO dieses größten Multimediahauses Europas, einem megalomanen "Marktführerherrenmenschen" und "scheinzergrübelten" kunstsinnigen "Schöngeist", mit dem der Erzähler, ein Schriftsteller, seit 15 Jahren eng befreundet ist. Und weil dieser Autor als bestallter Hofnarr des Konzernchefs mitbekommt, was alles schief läuft und "rotzekrank" ist in diesem "Männerladen", versucht er es an die Öffentlichkeit zu bringen. U.a. mittels kompromittierender Chatverläufe, – also darf die Welt weiter rätseln, ob Benjamin von Stuckrad-Barre womöglich hinter den kürzlich geleakten Mathias-Döpfner-Chats steckt.

Tribunal in Stuckrad-Barre-Manier

Über die Erzeugnisse des Medienhauses liest man dieses Bonmot: "Wenn das Journalismus ist, dann ist eine Messerstecherei ein kosmetischer Eingriff." Das ist geschult am Satiriker Wiglaf Droste, der für Benjamin von Stuckrad-Barre ein wichtiges Vorbild ist – er erweist Droste auch Reverenz, indem er dessen Wortschöpfung "angehausmeistert" in den Roman einfließen lässt. Das Idol wohl aller deutschen Popliteraten, Bret Easton Ellis, das verehrte "Genie", trifft Stuckrad-Barres alter ego in Los Angeles zum Abendessen – denn regelmäßig entflieht er dem tristen Berliner Winter ins sonnige Kalifornien und residiert in Hollywoods legendärem Hotel Chateau Marmont. Die stärkeren, gewitzteren Passagen aber spielen im grauen Berlin, schildert er doch wohltuend sarkastisch den Wahnsinn selbstherrlicher Medien-Zaren wie auch befreundeter Tech-Giganten. Auch Elon Musk hat hier einen hochkomischen Auftritt.

Schon solcher Szenen wegen lohnt die Lektüre dieses rasanten Romans, der einmal mehr beweist, über ein wie feines Sprach-Sensorium Benjamin von Stuckrad-Barre verfügt. Hohlformeln und "Blendvokabeln", mit denen sog. Entscheider "komplett enthemmt" auf ihre Umwelt "einphrasen", stellt er in Großbuchstaben aus. Er setzt also das, was er "Lalltext" nennt, in Versalien – und damit unserem Lachen aus. Wenn es einmal heißt "Wir fackeln diesen ganzen Scheißladen ab", dann erinnert das in seiner Diktion ein wenig an das "Springer-Tribunal" von 1968. Ein Tribunal wird hier durchaus auch abgehalten – aber eben in Stuckrad-Barre-Manier. Das bedeutet, dass er auch mit sich selbst ins Gericht geht. Die Frau, mit der er die Missetaten des Chefredakteurs recherchiert, sagt zu ihm mal: "Ich finde zum Beispiel deine Bücher auch nicht geil, dich mag ich aber trotzdem."

Benjamin von Stuckrad-Barre: "Noch wach?", Kiepenheuer & Witsch, 384 Seiten, 25 Euro.

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