Als an diesem Donnerstag der Ständige Sekretär, Mats Malm, um Punkt 13 Uhr durch die weiß-goldene Flügeltür der Schwedischen Akademie in Stockholm vor die Presse tritt, um den Namen der Preisträgerin des diesjährigen Literaturnobelpreises zu verkünden, ist die betreffende noch völlig ahnungslos: Annie Ernaux, Schriftstellerin aus Frankreich. Sie werde in diesem Jahr ausgezeichnet, verkündet Malm vor der Weltöffentlichkeit, "für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt".
Da gebe es nur eine kleine Sache noch anzumerken: "Wir haben es noch nicht geschafft, Annie Ernaux telefonisch zu erreichen", so Malm. Die Nachricht geht da längst über die Agenturticker, erste Glückwünsche trudeln über die Sozialen Netzwerke ein: Der deutsche Verlag der Preisträgerin, Suhrkamp, twittert freudig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gratuliert ebenso via Kurznachrichtendienst, selbst der österreichische Bachmann-Wettbewerb meldet sich zu Wort. Und die Preisträgerin?
Wie Ernaux erfuhr, dass sie den Nobelpreis bekommt
Ernaux erfährt erst kurz darauf durch einen Anruf der schwedischen Nachrichtenagentur TT von der Auszeichnung: "Nein! Wirklich?" sagte sie nach TT-Angaben. "Ich habe heute Morgen gearbeitet und das Telefon hat die ganze Zeit geklingelt, aber ich bin nicht dran gegangen", sagte sie demnach und ergänzte: "Ich höre es jetzt die ganze Zeit klingeln."
Frankreichs Ex-Kulturministerin und Autorin Aurélie Filippetti bezeichnete die Vergabe an Ernaux als große Freude. Sie habe biografischen Stoff zur Kunst des Erzählens erhoben und die dumpfe Gewalt sozialer Klassen, männliche Dominanz, Scham und Leidenschaft zum Ausdruck gebracht, schrieb Filippetti auf Twitter. "In ihr erkennen sich so viele Frauen wieder."
So reagiert die Literatur-Szene in Bayern
Auch im Münchner Literaturhaus hält man Ernaux für eine hervorragende Wahl: "Ihr Werk ist auf einzigartige Weise zeitgemäß", sagt Leiterin Tanja Graf dem BR. Ihre Arbeit zeige, dass Literatur etwas Befreiendes habe, jenseits von Klassenzugehörigkeit, Geschlecht oder gesellschaftlicher Konvention. "Ihre experimentelle Autobiografie 'Die Jahre' (Les années) ist sicher eines der großen Manifeste weiblichen Schreibens in unserer Zeit."
Und Ernaux sei stilbildend, so Graf weiter: "Sie ist quasi die Erfinderin des autofiktionalen Schreibens, bei ihr wird das Unpolitische politisch und das Persönliche universell." Autofiktion bezeichnet in der Literaturwissenschaft einen Text, in dem eine Figur, die eindeutig als der Autor oder Autorin erkennbar ist, in einer offensichtlich als fiktional gekennzeichneten Erzählung auftritt.
Die Französin wurde vor der Preisbekanntgabe von mehreren Literaturexperten zum engen Favoritenkreis gezählt. Der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck hatte sie als seine große Favoritin auf dem Zettel gehabt. Es handle sich um einen "Festtag für die Literatur", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Sowohl in ästhetischer als auch in politischer Hinsicht sei die diesjährige Entscheidung "eine beglückende Wahl".
Macron gratuliert via Twitter
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, den Ernaux zuletzt noch für sein neoliberales Gesellschaftmodell kritisiert hatte, zeigte sich ungeachtet dessen hoch erfreut und twitterte mit viel Pathos: "Annie Ernaux schreibt seit 50 Jahren den Roman des kollektiven und intimen Gedächtnisses unseres Landes. Ihre Stimme ist die der Freiheit der Frauen und der Vergessenen des Jahrhunderts. Sie reiht sich mit dieser Krönung in den großen Kreis der Nobelpreisträger unserer französischen Literatur ein."
Der Ständige Sekretär Mats Malm verkündet den Literaturnobelpreis 2022.
Der Nobelpreis für Literatur gilt als die prestigeträchtigste literarische Auszeichnung der Welt. Auf der sogenannten Longlist für den Preis standen in diesem Jahr 233 Kandidaten – welche Namen darunter sind, wird alljährlich streng geheim gehalten. "Ich hatte sie nicht auf dem Zettel gehabt", sagt Patricia Preuß vom Literaturhaus Oberpfalz in Sulzbach-Rosenberg auf Anfrage des BR. Ernaux sei allerdings eine "sehr interessante Autorin". Viele hätten ja eher auf den Autor Salman Rushdie spekuliert, der vor Kurzem bei einem Attentat schwer verletzt wurde. Die jetzige Wahl sei eine weniger politische Entscheidung. "Ich finde, sie passt sehr gut in unsere Zeit", sagt Preuß, "sie steht für Autofiktion, die gerade Hochkonjunktur hat."
Verlag rechnet mit Ansturm auf Ernaux-Bücher
Ernauxs deutscher Verlag rechnet nun mit einem Ansturm auf die Bücher der 82-Jährigen. Aktuell seien alle Bände lieferbar, hieß es bei Suhrkamp. "Noch etwa eine halbe Stunde", mutmaßte Pressesprecherin Tanja Postpischil kurz nach der Bekanntgabe mit Blick auf den anstehenden Run. Für alle im Verlag erschienenen Bücher von Ernaux seien Neuauflagen geplant.
Zudem erscheint in diesen Tagen ein Ernaux-Band neu in deutscher Übersetzung. In "Das andere Mädchen" schreibt Ernaux einen Brief an ihre Schwester, die sie nie kennenlernen durfte. Es geht um Kindheit und wie Schicksalsschläge eine Familie auf immer verändern können. Als Taschenbuch kommt zudem "Das Ereignis", die Geschichte einer schwangeren jungen Frau, die im Frankreich der 60er Jahre versucht, Wege für eine Abtreibung zu finden. Wie lange dieses Werk dann verfügbar ist, wird sich in den kommenden Tagen zeigen.
Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AP, epd, afp
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!