Wer 1899 von Southampton nach New York reist, lässt seine Vergangenheit oft für immer hinter sich: So ist es auch bei den Passagieren des Transatlantik-Kreuzers "Kerberos". Die strenggläubige, dänische Familie in der dritten Klasse hofft auf einen Neuanfang. Ebenso: Maura Franklin, eine allein reisende Ärztin aus England und Ying Li, eine vermeintliche Geisha aus Japan, die aber kantonesisch spricht. Ying Li ist nicht die einzige unter den Reisenden, die ein Geheimnis umgibt.
Geheimnisse, Geheimnisse, Geheimnisse!
Und das ist nicht alles. Vier Monate zuvor ist ein Kreuzer derselben Reederei – die "Prometheus" – im Atlantik verschwunden. Mit 2.000 Menschen an Bord: Als die "Kerberos" plötzlich ein Signal des verschwundenen Schiffs empfängt, weicht der Kapitän vom Kurs ab und setzt so eine spannende Mystery-Handlung in Gang. Der Traum vom besseren Leben endet für die meisten Passagiere mit einem bösen Erwachen.
Wo beginnt und endet die Realität? Haben Menschen einen freien Willen? Und: Was ist der Kitt, der uns Menschen verbindet? Diese Fragen begleiten das Serienschöpferduo Jantje Friese und Baran bo Odar auch in "1899" wieder. Schon in ihrer ersten Mysteryserie, der hochgelobten Kleinstadt-Tragödie "Dark" von Netflix, haben sie die Antworten in Religion, Psychologie und griechischer Mythologie gesucht. Mystische Symbole wie das Dreieck werden so zu bedeutungsschweren Platzhaltern – so Jantje Friese: "Man bekommt ein Symbol gezeigt und hat eine eigene Assoziation zu dem Symbol. Und über die Geschichte, die wir erzählen, verändert sich dann, wie wir das Symbol interpretieren. Das versuchen wir auf ganz vielen Ebenen."
Polyglotter Rätselspaß
"1899" ist ein Rätselspiel mit doppeltem Boden, das das Publikum schnell frustrieren kann: Wie bei einer Schnitzeljagd wimmelt es vor versteckten Hinweisen und falschen Fährten, die bei dem hohen Erzähltempo schnell übersehen werden. Als leichte Abendunterhaltung ist "1899" darum genauso wenig geeignet wie "Dark". Die Serien von Friese und Odar erfordern aktives Zuschauen. Auch, weil in der Originaltonfassung von "1899" über neun Sprachen gesprochen werden.
So international wie die Reisenden auf der "Kerberos" ist auch das Serien-Ensemble: Alle Darstellenden performen in ihrer Muttersprache. Ein zerstrittenes Paar spricht Französisch, die Schiffsheizer Polnisch und Englisch – der Kapitän und seine Mannschaft Deutsch. Dialoge sind untertitelt, aber nicht synchronisiert. Englisch ist die Lingua Franca an Bord.
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Ausgangsfrage: Wie kann menschliches Zusammenleben funktionieren?
Wo Worte fehlen, findet Kommunikation oft zwischen den Zeilen statt. Das wirkt echt und lebendig und erzeugt kraftvolle Bilder und Szenen von intuitiver, zwischenmenschlicher Annäherung: Liebe (aber auch Hass) benötigen keine Worte. Das Schiff als globaler Mikrokosmos – "1899" sei auch als Reaktion auf den aufkeimenden Nationalismus in Europa entstanden, erklärt Drehbuchautorin Jantje Friese. Sie habe die Frage umgetrieben, wie es eigentlich möglich sei, "unterschiedliche Leute mit unterschiedlichen Hintergründen, unterschiedlichen Kulturen zusammen in einen Raum zu bringen ohne dass sich alle totschlagen."
Zwar ist die Serie in einer weit entfernten Vergangenheit angesiedelt. "1899" gibt aber auch einen Eindruck von der Zukunft des Films: Transatlantikkreuzer wie die "Kerberos" existieren in der Realität nicht mehr. Die imposante, holzvertäfelte Speisehalle der ersten Klasse oder die Drehorte sind reine Filmmagie. Denn statt quer durch Europa zu reisen, wurde "1899" in einem neuen High-Tech-Studio im Studio Babelsberg vor komplett virtueller Kulisse gedreht. Das Ergebnis erstaunt – und wirkt vollkommen realistisch.
Serienvorgänger "Dark" schürt auch bei "1899" die Erwartungen
Ihre Serie "Dark" haben Friese und Odar nach drei Staffeln gekonnt beendet, alle Rätsel zufriedenstellend in einem emotionalen Finale aufgelöst. Diese Weitsicht deutet sich auch in den ersten sechs Folgen von "1899" an. Wer sich darauf einlässt, kann darauf vertrauen, dass dieses Duo uns nach einer wilden, anspruchsvollen Reise sicher in den Hafen bringt.
Szene aus Netflix-Serie "1899" - hier die Videokritik von "kinokino"
Alle acht Folgen von "1899" können Sie ab dem 17.11. bei Netflix streamen – und der BR-Serienpodcast "Skip Intro" taucht in der kommenden Episode noch tiefer in die Serienwelt ein. Abonnieren Sie "Skip Intro" in der ARD Audiothek, dann verpassen sie die Folge nicht.
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