Schwarz gekleideter junger Mann mit weiß geschminktem Gesicht
Bildrechte: Olga Sokolowa/Picture Alliance

Russischer Comic-Fan auf der Moskauer Convention

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"Narren und Idioten": Russische Manga-Fans beunruhigen Kreml

Sie treffen sich zu Hunderten in Einkaufszentren und sind den Sicherheitsbehörden ein Dorn im Auge: Jugendliche, die sich modisch an Vorbilder aus japanischen Comics orientieren. Was die Behörden nicht kontrollieren können, sorgt für Nervosität.

Sie sorgen derzeit in Russland für Schlagzeilen: Junge Menschen in schwarzen Klamotten, die sich auf ihre Jacken Spinnen-Symbole und die Ziffer 4 nähen, offenbar inspiriert von der so wagemutigen wie kriminellen "Phantom-Truppe" (Gen'ei Ryodan) aus der japanischen Manga-Serie "Hunter x Hunter". Dort sorgt eine dreizehnköpfige Gang im Zeichen der Spinne für Angst und Schrecken, angeführt von einem diabolischen Clan-Boss namens "Chrollo Lucilfer". Was Außenstehenden bizarr anmutet, wurde aus Sicht des Kreml zu einem erheblichen gesellschaftlichen Problem.

"Einladung an die Front"

Selbst der russische Sicherheitsrat soll sich schon mit dem Phänomen befasst haben, Putin zeigte sich dort angeblich sehr nervös. Bei einer Sitzung der Geheimdienst-Führung sagte er laut Pressedienst des Kreml, der gesellschaftliche "Abschaum" müsse bekämpft werden: "Natürlich sollte weiterhin daran gearbeitet werden, die Taten derjenigen aufzudecken und zu unterdrücken, die das Internet und die sozialen Netzwerke nutzen, um terroristische und extremistische Ideologien zu verbreiten, die versuchen, unsere Bürger in terroristische Gruppen einzubinden, wobei wir natürlich alle sehr gut wissen, dass die am meisten gefährdete Kategorie hierbei die Jugend ist."

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte: "Da wurde Aufmerksamkeit erregt. Darauf müssen wir natürlich reagieren. Es ist wichtig, illegale Aktionen zu unterbinden, zum Jugendschutz." Am 24. und 25. Februar wurden nach Angaben der kremlnahen Nachrichtenagentur RIA Nowosti rund 350 Manga-Fans, meist minderjährig, in Einkaufszentren und an anderen öffentlichen Orten festgenommen und zu Polizeidienststellen gebracht. Der Vorwurf lautete, sie hätten sich Schlägereien geliefert und seien aggressiv gegen "nicht-slawisch" aussehende Passanten vorgegangen. Es war von Vorfällen in Moskau, St. Petersburg, Kasan, Ulan-Ude und Nowosibirsk die Rede.

Inzwischen hat sich das russische Parlament eingeschaltet. Artem Metelew, der Vorsitzende im Jugendausschuss, kündigte an, sich mit Vertretern der Jugendbewegung zu treffen: "Ich würde diese Gemeinschaft nicht wirklich als etwas Extremistisches wahrnehmen, als etwas, das bekämpft werden muss. Mir scheint, dass diese Typen eine Aufgabe brauchen und weil sie sich ja selbst Privatarmee nennen, könnte doch [Söldnerführer] Jewgeni Prigoschin die Schirmherrschaft übernehmen und sie einladen, sich freiwillig für die Front zu melden. Oder wir schicken diese Leute in die Rüstungswirtschaft, weil sie ja offenbar eine körperliche Stärke haben, die sie einsetzen wollen."

"Anime ist für Verlierer und Idioten"

Der stellvertretende Vorsitzende im Jugendausschuss, Witali Milonow, gab sich ähnlich sarkastisch. Die gesamte Anime-Kultur sei "Pornografie für Perverse" und damit ein "extrem heikles Phänomen": "Beliebt ist sie aufgrund der unrealistischen Proportionen vermeintlich junger Mädchen, die dich mit großen Augen ansehen und in sehr kurzen Röcken herumlaufen. Für Teenager ist das einfach wie Mode. Anime ist für Verlierer, Narren und Idioten, also bin ich mir sicher, wenn wir die Wahrheit über Anime sagen, nämlich dass es völliger Unsinn ist, dann wird es bald ausgetrocknet, es wird zum bloßen Mythos werden."

Die "Moskowski Komsomolez" interviewten einen angeblich "Ryodan"-Insider, der den Aufruhr damit erklärte, dass die Szene systematisch falschen Alarm bei den Sicherheitsbehörden ausgelöst habe. Auch die jugendlichen Gegner der Manga-Fans, als "Sportler" bezeichnet, hätten sich immer wieder bei der Polizei mit anonymen "Bombendrohungen" gemeldet: "Ich glaube, die Kinder wollten ihre Stärke unter Beweis stellen." Inzwischen wollte "alle" bei dem Hype mitmachen.

"Sucht, Sex, Selbstzerstörung"

Politologe Sergej Markow beschimpfte die "Subkultur" als "schädlich", weil sie um "Suizid, Depression, Drogen und Sex" kreise. Allerdings fand es der kremlnahe Analytiker ganz gut, dass diese Spielart der Manga-Verehrung inzwischen auch in der Ukraine populär wurde: "Das bestätigt, dass die Ukraine ein kultureller und zivilisatorischer Teil Russlands ist." Befeuert wurde die Bewegung, die sich als "Privatarmee Ryodan" bezeichnet, angeblich vom russischen Rapper Kishlak aus der arktischen Stadt Seweromorsk, der im Zeichen von "Sucht, Sex und Selbstzerstörung" auftritt.

Der prominente Blogger Andrej Medwedew (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen russischen Ex-Präsidenten) nimmt die Auseinandersetzungen um "Ryodan" als beunruhigendes gesellschaftliches Phänomen wahr: "All das deutet darauf hin, dass die heutige russische Jugend leidenschaftlich, energisch, aber manchmal völlig nervös ist und nicht versteht, wohin sie ihre Energie lenken soll. Und jene Möglichkeiten, die ihr angeboten werden, wirken auf Jugendliche nicht überzeugend. Ja, Sie werden es nicht glauben, aber sie interessieren sich nicht für die verstaubte [sowjetische Jugendorganisation] Komsomol in neuer Verpackung."

"Hält Strafverfolger von Pflichten ab"

Die Jugend könne das "Gelaber" von Erwachsenen "nicht ertragen". Die Entscheidung, alles zu verbieten sei "seltsam", so Medwedew: "Auch Politiker und Abgeordnete sagen manchmal Dummheiten. Und werden sie deshalb verboten?" Leider zeige das alles, dass die russischen Erwachsenen der Jugend "zunehmend misstrauen".

Im rechtsnationalistischen TV-Sender "Tsargrad" werden die jungen Leute als "Vogelscheuchen" in "lächerlich karierten Hosen" geschmäht. Lob gab es für die Sicherheitskräfte, die diese "ausgemergelten, blassen, ständig vor dem Bildschirm lungernden" Personen aufgegriffen hätten. Ausgangspunkt der Vorfälle sei eine Schlägerei im Moskauer Einkaufszentrum "Aviapark" am 19. Februar gewesen, und natürlich hätten die "ukrainischen Sicherheitsdienste" nichts Besseres zu tun gehabt, als diesen "wunden Punkt in der russischen Gesellschaft ans Licht zu zerren". Wörtlich heißt es bei "Tsargrad": "Das fesselt die Aufmerksamkeit von Millionen, hält Strafverfolgungsbeamte von ihren unmittelbaren Pflichten ab und provoziert Zwietracht unter den Russen. Während des Krieges. Und das ist besonders ärgerlich."

In einem russischen Blog mit 100.000 Followern wird so detailreich wie besorgt über die Anime-Subkultur informiert: "Warum beschreiben wir das alles so ausführlich? Wir sehen Anzeichen dafür, dass die Schrauben im Internet weiter angezogen werden und dafür, dass der Staat die Jugend wieder einmal gegen sich aufbringt, indem er eine sehr populäre Subkultur bekämpft, an der zunächst nichts verkehrt ist und die keine Gewalt, Aggression oder Selbstmorde fördert. Es gilt, Kontakte zu jungen Menschen zu knüpfen und Brücken zu bauen, und sie sich nicht zu Feinden zu machen."

"Keine bewaffnete Formation"

In russischen Debattenforen gibt es eine rege Auseinandersetzung über "Ryodan": "Wenn sich der Staat nicht um die jüngere Generation kümmert, dann tun es andere! Und schon gar nicht unsere Freunde!" Jemand wollte die Jugendlichen "alle in den Käfig" stecken. Wenn die Bewegung für die NATO sei, müsse sie auf jeden Fall verboten werden. Immerhin handle es sich nicht um eine "bewaffnete Formation", beruhigt ein Portal, trotz des martialischen Titels "Privatarmee".

Die russische Zensurbehörden kündigte an, sich künftig alle Veröffentlichungen über "Ryodan" genauer ansehen zu wollen. Trotz der Alarmrufe in den russischen Medien gebe es allerdings noch keine Beweise dafür, dass es sich um eine "zerstörerische Gruppe" handle. Allerdings sei vermutlich die "psychologische Abteilung der ukrainischen Armee" beteiligt, nachdem das Thema "viral" gegangen sei. Ekaterina Mizulina von der Liga für ein "sicheres Internet" forderte die Medien auf, nicht mehr über die Manga-Szene zu berichten: "Die Ryodan-Zellen schießen sonst wie Pilze aus dem Boden, von Wladiwostok bis Kaliningrad."

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