Was ist der Mensch? Diese große Frage durchzieht – wie ein roter Faden – das große essayistische Werk von Siri Hustedt. In ganz unterschiedlichen Perspektiven beschäftigt sich die in New York lebende Autorin schreibend mit den Grundlagen unserer Existenz, autobiografisch, philosophisch, ebenso naturwissenschaftlich. Seit vielen Jahren verfolgt Hustvedt etwa aufmerksam die Diskussionen in den Neurowissenschaften und in der Genetik. Sie bezeichnet sich gerne als intellektuelle Nomadin. Und weiß, der Essay kommt dem Nomadentum sehr zugute.
Montaigne und die Geschichte der eigenen Familie
"Der Essay ist eine enorm flexible Form des Schreibens", sagt Siri Hustvedt im BR-Interview. "Er ist dabei mit dem Roman vergleichbar. Der große französische Schriftsteller Montaigne hat uns – in der westlichen Tradition – eröffnet, was der Essay vermag. Sprünge, Erkundungen, nicht notwendigerweise Antworten auf die Fragen zu geben, die wir stellen – das alles ist Teil dieser Form."
Im Essayband "Mütter, Väter und Täter" – im Original "Mothers, Fathers and Others" – erzählt Siri Hustvedt unter anderem von der Geschichte ihrer Familie, von den Großeltern väterlicherseits, von ihrem Leben auf einer Farm in Minnesota und den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise. Am Beispiel der Großmutter fragt sie etwa, wie sich Erinnerung, im Lauf eines Menschenlebens, verändert.
Von der Mutter zum Blick auf die Frauen
Ein anderer Text folgt der Lebensgeschichte der Mutter. Sie stammte aus Norwegen und erlebte als Jugendliche die deutsche Besatzung im Land. Zur Biographie kommen Betrachtungen über den Blick auf die Frau in der westlichen, patriarchalisch geprägten Kultur. Und auf die sich wandelnden Beziehungen, in denen Menschen einander verbunden sein können.
"Es ist wichtig, in allen unseren Definitionen von Beziehungen, dass wir sie nicht in einzelne Schubladen einsortieren", so Siri Hustvedt. "Wir alle neigen dazu, auch ich bin sicher nicht frei davon. Eben: das ist die Mutter. Oder, wie es oft in Familien geschieht: das eine Kind ist das dickköpfige, das andere ist das kreative. Und dann sind die armen Kinder in diesen festen Rollen gefangen (lacht dabei). Sie übernehmen sie innerlich. Das verhindert eine dynamische Entwicklung und die Möglichkeit, aufzubrechen."
Naturwissenschaft, Bach, Literatur - und Empathie
Der thematische Bogen in Siri Hustvedts Texten ist groß – der Band "Mütter, Väter und Täter" zeugt von einer beeindruckenden Weite des Denkens. Hier schreibt die Autorin – wirklich: eine intellektuelle Nomadin – über feministische Perspektiven und die philosophischen Grundlagen einer Weltsicht, in deren Folge – über Jahrhunderte hinweg – Frauen benachteiligt worden sind und werden. Dort berichtet sie von neurowissenschaftliche Erkenntnissen, da von der Faszination prähistorischer Kunst oder den Kantaten Bachs, dann von den Erfahrungen der Pandemie und schließlich über einen historischen Kriminalfall in den USA.
Auch das Schreiben spielt eine Rolle in den Essays. Und das Lesen, die Frage, was uns die Auseinandersetzung mit Büchern eröffnen kann. "Lesen ist ein Abenteuer", sagt Siri Hustvedt. "Davon bin ich überzeugt. Es ist natürlich ein Klischee: Du reist in Gedanken und begibst dich in die Welt von anderen. Literatur eröffnet den intimsten Weg, das zu erreichen, was uns fremd ist. Wir haben Zugang zum Anderen, zum Fremden. Damit wir das annehmen können, brauchen wir verschiedene Formen der Empathie."
Literatur als Selbst-Erweiterung
Lesen, schreibt Siri Hustvedt einmal, ist eine Form der Selbst-Erweiterung. Und: Wir brauchen gute Geschichten, um unsere Denkgewohnheiten zu stören. Ihr Essay-Band "Mütter, Väter und Täter" gleicht einem großen Haus mit vielen Räumen. Hinter jeder Tür eine eigene, oft faszinierende Welt – und viele Anstöße zur Selbst-Erweiterung. Man trete ein in dieses Haus voller kluger Texte - und gewinnt so viele wichtige Impulse für das Denken.
Siri Hustvedts Essay-Band "Mütter, Väter und Täter" ist – in der Übersetzung von Grete Osterwald und Uli Aumüller – bei Rowohlt erschienen.