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"Die Maus" von Art Spiegelman

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Maus-Zeichner Art Spiegelman wird heute 70

Er hat die einflussreichste Graphic Novel der Comicgeschichte geschrieben: "Maus". Auch mit 70 Jahren bleibt Art Spiegelman, Sohn von Holocaust-Überlebenden, ein prägender Intellektueller. Von Thomas von Steinaecker

Über dieses Thema berichtet: Kulturjournal am .

Eine Szene, wie sie zum Standardinventar der Erinnerungskultur gehört: Der erwachsene Sohn fragt seinen alten Vater über dessen Vergangenheit aus. Und nach ein wenig Grummeln kommt der ins Erzählen. So beginnt der erste Band von Art Spiegelmans "Maus". Während der Vater dann auf seinem Fitnessfahrrad wie in einer Zeitmaschine auf der Stelle tritt, zerfällt er zu den Einzelbildern eines Mosaiks, das es zusammenzusetzen gilt. In den Speichen scheinen derweil die Bilder der Vergangenheit auf.

Der gesamte fast 300-seitige Comic-Roman ist von einer Vielzahl solch brillanter formaler Einfälle durchzogen. Und doch ist es in erster Linie etwas ganz Simples, Grundsätzliches, das "Maus" mittlerweile zum Klassiker, bei Erscheinen jedoch zum weltweit diskutierten Skandal werden ließ.

Auschwitz zu Mauschwitz gemacht

Der Untertitel des ersten Teils sagt es bereits, es geht um die "Geschichte eines Überlebenden", es geht um Vladek Spiegelman, Art Spiegelmans Vater, der zusammen mit seiner Frau Anja Auschwitz überlebte. Das allein, die Darstellung des an sich Undarstellbaren, ist für jeden Künstler bereits eine kaum zu bewältigende Herausforderung, zumal für einen Zeichner, der sich nicht hinter Worten verstecken kann, sondern das unsagbare Grauen tatsächlich "zeigen" muss. Die Entscheidung, den Holocaust als Comic zu erzählen, in einem Medium also, das den Begriff der "Komik" schon im Namen trägt, erschwert die Sache noch – und wird vollends kontrovers durch Spiegelmans Kunstgriff, Geschichte zur Fabel, die Juden zu anthropomorphen Mäusen, die Deutschen zu Katzen und die Polen zu Schweinen zu machen.

Aus Auschwitz wird Mauschwitz. Das klingt, wenn man es heute hört, immer noch so genial wie provokant – was diese Idee aber 1986 bedeutete, als der erste Band von "Maus" in den USA und drei Jahre später in Deutschland erschien, das kann man sich aus der zeitlichen Distanz von über 30 Jahren nur mehr schwer vorstellen. Die Frankfurter Rundschau sprach vom "Zerfall des Comic-Romans", Der Spiegel abwertend vom "Holocaust-Cartoon", Tempo fragte zynisch "Warum nicht künftig die Juden als Hündchen abbilden und den Comic 'Wauwauschwitz' nennen?"

Vom kontroversen Comic zum Stoff für Seminare

Auch wenn "Maus" ursprünglich Kontroversen entfachte, so wurde es doch sehr schnell als ein in mehrfacher Hinsicht Epoche machendes Werk erkannt. Es revolutionierte die Comic-Szene, indem es den Beginn des Graphic Novel-Booms einläutete. Ohne "Maus" wären Werke wie Marjane Satrapis "Persepolis" undenkbar. Es revolutionierte die Darstellung des Holocausts, indem es ihn in die Popkultur überführte. Und: Es revolutionierte das Memoiren-Genre, indem es die Mechanismen der Erinnerung offenlegte wie nur wenige andere Werke davor. All das machte "Maus" zum Phänomen. Es wurde zum Stoff an der Universität und vor allem: zum Longseller, in dreißig Sprachen übersetzt und über zweieinhalb Millionen Mal verkauft.

Ein kosmopolitischer Intellektueller, der sich einmischt

Hin und wieder veröffentlicht Spiegelman auch immer noch Kurzcomics. Augenzwinkernd nennt er sie "One Page Graphic Novel". Wie jene über den 11. September, die unter dem Titel "Im Schatten keiner Türme" veröffentlicht wurden, oder zuletzt über seine schwere Krebserkrankung, die ihn zur Wiederbeschäftigung mit den Stücken Samuel Becketts veranlasste. Extrem komprimierte, ja kryptische autobiografische Lebenszeichen. Die Entschlüsselung dieser komplexen Mini-Erzählungen in Zeichnungen würde schon Stoff genug für eine wissenschaftliche Arbeit abgeben. Und vielleicht ist es auch an der Zeit für die große internationale Fangemeinde, nicht weiter ein zweites Opus Magnum zu erwarten.

Denn Art Spiegelman ist mittlerweile zu etwas geworden, das in unserer Zeit selten ist, obwohl sie es doch mehr als nötig hat: Ein kosmopolitischer Intellektueller, der immer, wenn die Welt ihren moralischen Kompass zu verlieren droht – was zuletzt häufiger zu passieren scheint – seine Stimme erhebt, ob in Interviews, Reden, Aufsätzen, Zeichnungen oder eben Comics. Kürzlich erst zog er Parallelen zwischen den gegenwärtigen USA und dem Deutschland der 1930er-Jahre.

Unweigerlich kommt man da eben doch wieder auf jenes Werk zurück, das stets Spiegelmans größtes bleiben wird. Es sind Arbeiten wie "Maus", die wichtiger denn je sind, nun, da die letzten Holocaust-Überlebenden sterben, da wir uns an die Bilder vom Holocaust gewöhnt zu haben scheinen, das Gedenken an ihn womöglich allzu oft pflichtschuldig abhaken, da allerorts neue faschistische Tendenzen salonfähig werden. Es sind Arbeiten wie "Maus", die uns, die wir schon alles gesehen haben, auch über 30 Jahre nach ihrem Erscheinen ebenso fesseln, bewegen wie irritieren. Größeres kann ein Künstler nicht erreichen. Auch wenn er nur so etwas Kleines und irgendwie Seltsames macht wie Comics.