Schriftsteller Matthias Politycki
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Matthias Politycki kritisiert "Moralsnobs" im "Debattensumpf"

Vor knapp einem Jahr zog der Schriftsteller Matthias Politycki nach Wien, weil er sich im hiesigen Diskussionsklimawandel zunehmend unwohl fühlte. Darüber hat er jetzt einen Essay geschrieben.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Fangen wir mit einem provokativen Satz von Robert Musil an, geschrieben in Wien, also dort, wo der bis dato in Hamburg lebende Matthias Politycki seit ein paar Monaten lebt. In einer politisch auch nicht gerade ruhigen Zeit, zu Beginn der 1930er Jahre, notierte Musil in seinem Tagebuch: "Es geht nicht an, zwischen Rechts- und Linksschriftstellern zu unterscheiden." Matthias Politycki, ein äußerst reisefreudiger und alles andere als weltabgewandter Schriftsteller, würde sich, so schreibt es der 66-Jährige selbst in seinem neuen Essay, als "klassischen Linken" definieren. Und doch nervt ihn so wie die "Pöbelei von rechts" die "Belehrungsimpertinenz von links".

Ein klassischer Linker ist der Debatten müde

Bereits auf der Frankfurter Buchmesse 2021 hatte Politycki mit der Verlegerin Antje Kunstmann und der Autorin Jagoda Marinić einen "Diskussionsklimawandel" beklagt. In seinem neuen Buch "Mein Abschied von Deutschland. Wovon ich rede, wenn ich von Freiheit rede" (Hoffmann & Campe. 144 Seiten. 16 Euro) beschreibt er nun en détail, was ihn an den hiesigen Erregungsspiralen stört und warum seinem Eindruck nach vielerorts Aufklärung in ihr Gegenteil umschlägt. Es geht ihm um die Freiheit, sich ungeachtet derzeit angesagter Sprachmoden und -gepflogenheiten so auszudrücken, wie es ihm richtig und angemessen erscheint. Rücksichtsvoll, aber nicht überachtsam, wie er im Gespräch erklärt. Vor allem mit Lust an der Auseinandersetzung und ohne dass einem gleich niederste Motive unterstellt werden, wie das gerade in den "Gesinnungsschlachten auf den Datenstraßen der sozialen Netzwerke" Tag für Tag zu beobachten sei, wo "Wokisten" und "Moralsnobs" den Ton angäben und Widerrede mit Missachtung oder Shitstorms abgestraft werde.

Macht Politycki den Martenstein?

"Nicht nur das Zuhören müssen wir in Deutschland wieder neu lernen, sondern auch das wilde Denken." Der Satz steht ebenso im streitbaren Essay Polityckis wie diese zugespitzte Beobachtung: "Sobald wir öffentlichen Äußerungen aus welchem Lager auch immer lauschen, wachsen uns Ohren noch hinter den Ohren. Wir hören immer mit, was nicht gesagt wird, aber eigentlich gemeint ist. Diese Fähigkeit entwickelt der Mensch sonst nur in diktatorisch regierten Gesellschaften." Man darf davon ausgehen, dass bei manchem Leser schon hier die Alarmglocken schrillen. Natürlich hängt das mit dem Reizwort "Diktatur" zusammen. Warum dieser Vergleich mit einer diktatorisch regierten Gesellschaft, wieso auch diese Brecht-Anspielung "Was sind das für Zeiten, wo ein falsches Wort schon fast ein Verbrechen ist ..." an anderer Stelle, fragt man sich. Macht Matthias Politycki hier den Harald Martenstein? Verlässt der Schriftsteller Politycki nicht so Deutschland wie der Kolumnist Martenstein vor kurzem erst unter großem Getöse den Berliner "Tagesspiegel" verlassen und eine neue Heimat bei der "Welt" gefunden hat? Kann der eine wie der andere etwa nicht nach wie vor schreiben und publizieren, was er will und wonach ihm der Sinn steht?

"Betreutes Lesen fängt beim kuratierten Schreiben an"

Im Gespräch bestreitet Politycki all das nicht und sagt, er tue das "für all die, die es nicht mehr können" und spielt dabei mutmaßlich auf seine neue Verlagskollegin Monika Maron an, die nach Jahrzehnten ihre angestammte Verlagsheimat S. Fischer wegen politischer Differenzen verlassen hatte und zu Hoffmann & Campe gewechselt war. In seinem Buch schreibt Politycki, an die Stelle couragierten Schreibens sei "kuratiertes Schreiben" getreten, wenn Verlage sich etwa im "Sensitivity Reading" ergingen und Manuskripte auf mögliche "Mikroaggressionen" prüfen ließen: "Betreutes Lesen fängt beim kuratierten Schreiben an. Wir stehen gerade nicht nur am Anfang einer rückwirkenden Bereinigung des abendländischen Bildungskanons, es gibt auch schon erste Überlegungen, was man überhaupt noch schreiben darf. Allgemein sichtbar wird dabei nur die Spitze des Eisbergs, etwa beim Rausschmiss von Monika Maron aus dem S. Fischer Verlag im Oktober 2020, nach immerhin vierzigjähriger Zusammenarbeit. Andere verschwinden, ohne daß man es bemerkt." Letzteren Satz wird man, da er Namen schuldig bleibt, als eher nebulös einordnen müssen.

Schon Alfred Kerr sprach von "Spaltung"

Unbestreitbar hingegen Polityckis Befund, dass gerade im Netz – namentlich auf Twitter – Häme und Missgunst weitverbreitet sind und "eine Schar von Beckmessern" die Polarisierung der Gesellschaft vorantreibt. Er führt in dem Zusammenhang Alfred Kerr an, der 1924 bereits diagnostizierte: "Die Deutschen bestehn aus Leidenschaft und politischem Defekt. [...] Deutschlands Geschichte heißt: Spaltung, Scheelsucht; Hemmnis; Hass." Knapp 100 Jahre später scheint sich daran nicht allzu viel geändert zu haben. Deshalb ist Polityckis Frage berechtigt, warum wir der beliebten politischen Phrase gemäß nicht einfach "die Gesprächskanäle offen halten" und einander stattdessen lieber permanent attackieren. Einen Lösungsweg freilich kann auch er nicht aufzeigen. Es bleibt beim Versuch, ein profundes Unbehagen zu artikulieren. Ein Unwohlsein angesichts der neuen Art von "freiwilliger Selbstkontrolle von Autoren", die Politycki als "horizontale Zensur" beschreibt, "ausgeübt durch uns selbst und unseresgleichen", nicht vertikal von oben nach unten, also staatlicherseits.

Die große "Umbegreifung der Begriffe"?

Die Grammatik würde heute "gekapert" werden durchs Gendern, erläutert Politycki im Gespräch – und damit fühle er sich zunehmend eingeschränkt in seinen Ausdrucksmöglichkeiten. Im Buch ist von der "Umbegreifung der Begriffe" die Rede – in Anspielung an Friedrich Nietzsches Formel von der "Umwertung aller Werte". Im Gespräch mit dem BR erklärt Politycki: "Die Sprache hat weitgehend ihre Neutralität verloren, sie war natürlich nie völlig neutral, aber das hat jetzt eine andere Dimension erreicht", so dass man bei jeder Begriffswahl nun nachdenken müsse, ob diese einen nicht verdächtig mache, dem falschen Lager anzugehören. Denn die Reflexe und darauffolgenden "Zurechtweisungen" griffen schnell: "Wer Meinungskorridore beklagt, wird bezichtigt, Verschwörungstheorien zu verbreiten; wer sich besorgt über unkontrollierte Migration äußert, wird als Rassist in die rechte Ecke geschoben; wer die Frauenquote ablehnt, als frauenfeindlich." Polemisch spricht Matthias Politycki an einer Stelle von "strukturellem Wahnsinn". Ob er mit sich damit allerdings nicht eher Feinde als Freunde macht, steht auf einem anderen Blatt.

"Laßt mir die Musik in der Sprache!"

Es klingt schon fast verzweifelt, wenn der Autor am Ende seines Essays - in alter Rechtsschreibung - schreibt: "Laßt mir die Musik in der Sprache!" Will sie ihm wirklich irgendwer nehmen, kann ihn überhaupt irgendjemand am melodiösen Satzbau hindern? Wohl kaum. So nachvollziehbar seine Kritik am übertriebenen verbalen Vermeidungsverhalten ist, so irritierend gerät ihm sein Schluss. Da dröhnt einem ein allgemeines Dekadenzgerede entgegen, das seiner Sache eher abträglich ist: "Wir scheinen am Ende eines historischen Zyklus angelangt zu sein, wo Kulturen zerfallen, um etwas Neuem Platz zu machen. Unsre Gesellschaft ist mental alt geworden, sie ist nicht mehr hungrig auf Zukunft – als Gesellschaft, wohlgemerkt." Und ein paar Sätze weiter heißt es: "Vielleicht erleben wir gerade die finale Neurose der westlichen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die eine unglaubliche Beflissenheit darin entwickelte, Partialinteressen zu befriedigen, weil sie die Vision von sich selbst verloren hatte. Einer Gesellschaft, deren Mitglieder viel zu sensibel und gleichzeitig viel zu gleichgültig waren, um dem entschlossenen Vormarsch eines autoritären ‚Narrativs‘ etwas entgegenzusetzen." So autoritär wie hier behauptet ist dieses Narrativ und der inkriminierte "Haltungsdogmatismus" nicht. Dessen Machtgelüste mögen groß sein, aber seine Machtbefugnisse sind doch eher begrenzt - zum Glück. Es stimmt schon, wir waten mitunter im "Debattensumpf", aber nicht ununterbrochen.

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Buchcover "Mein Abschied von Deutschland"

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