ARD Radiofeature: Propagandaschlacht um Mariupol
Bildrechte: AFP/YURI KADOBNOV; Montage: ARD

Soldat in der Ukraine (Montage)

  • Artikel mit Audio-Inhalten

Mariupol – Hauptstadt der Propaganda und der Kämpfe

Dass ausgerechnet in Mariupol so heftig gekämpft wurde, liegt an Propaganda aus Russland. Aber auch für die Ukraine hat die Stadt besondere Bedeutung. Das ARD radiofeature lässt Menschen zu Wort kommen, die die Belagerung überlebt haben.

"Der Krieg kommt ohne Einladung", klagt die Dichterin Oksana Stomina. Sie ist aus Mariupol und hat erlebt, dass der Krieg nicht nur ungeladen, sondern auch mit ungeheurer Wucht kommt. Die ostukrainische Hafenstadt war schon sechs Tage nach Kriegsbeginn von russischen Truppen umzingelt und wurde auch aus der Luft angegriffen. "Wir konnten uns das nicht vorstellen: Flugzeuge fliegen über uns hinweg und werfen Bomben ab", sagt Iwan Goltvenko, der Personalchef des Stahlgiganten "Asowstal". Der Manager hat Verwandte in Russland, einen Onkel, Cousins und Cousinen.

"Es ist sehr schwer zu begreifen, dass der Feind so ist wie man selbst. Ich meine, wir sprechen dieselbe Sprache und unterscheiden uns auch sonst nicht." Iwan Goltvenko, Personalchef des Stahlgiganten Asowstal

Iwan Goltvenko erzählt, dass er einen "Infokrieg" gegen seine Verwandten führen musste, weil sie sich nicht davon abbringen lassen, dass "Asow" Mariupol zerstört habe.

Wie Russland und die Ukraine Mariupol zum Zentrum ihrer Propaganda machen, hören Sie in der ARD Audiothek im ARD radiofeature "Propaganda-Schlacht um Mariupool". Autorin Christine Hamel war noch 2021 zu Besuch in der Hafenstadt, und hat jetzt mit Menschen gesprochen, die der Stadt entkommen sind – oder noch immer dort leben.

  • Die aktuellen Entwicklungen des russischen Krieges gegen die Ukraine finden Sie hier.

Die "Asowzy" im Zentrum der Propaganda

Die russische Propaganda stützt sich schon seit Beginn des Krieges in der Ostukraine auf die angebliche Terrorisierung der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine durch Neonazis. Als Mariupol 2014 kurzzeitig unter die Kontrolle prorussischer Separatisten geraten war, konnte das Bataillon Asow zusammen mit der Armee die Stadt für die Ukraine zurückerobern. Der Fokus der Stimmungsmache richtet sich seitdem vor allem auf das Bataillon beziehungsweise Regiment Asow.

Tatsächlich kämpfen bei Asow Rechtsextreme, aber dass Russland daraus einen Kriegsgrund ableitet, ist schiere Propaganda. Der kanadische Rechtsextremismusforscher und Journalist Michael Colborne hat gerade ein Buch über "Asow" geschrieben. "From the fires of War: Ukraine's Azov Movement and the Global Far Right." Er meint, dass der "extrastarke Entschluss und dieser extrastarke Wunsch, die Stadt einzunehmen" damit zu tun haben, dass Asow in Mariupol stationiert war. "Es war von Anfang an Ziel der Russen, sich am Ende so zu präsentieren: 'Wir haben die Nazis besiegt!'"

Der Krieg reißt alle und alles mit

Dass es in Mariupol zu wochenlangen Straßenkämpfen gekommen war, hat vor allem politische Gründe. Die Verteidiger der Stadt, im Kern das Regiment Asow, waren schnell eingekesselt und konnten keine größeren Operationen mehr unternehmen. Nach Logik der Propaganda konnte man die Bewohner Mariupols mit all den vermeintlichen Neonazis in der Stadt aber nicht allein lassen. Seit Monaten schon hatten die russischen Staatsmedien die Gefahr von "Nazi-Bataillonen" heraufbeschworen.

Also mussten sich die russischen Truppen auf einen Häuserkampf mit den Verteidigern von Mariupol einlassen. Leidtragende waren die Bewohner. "Wir saßen in der Falle", sagt Ksenya Kayan. Die 40-Jährige hatte mit ihrem Sohn Bogdan in einem Hochhaus am Hafen gewohnt. Als der Krieg anfing, war sofort klar, dass sie dort nicht bleiben können. Mutter und Sohn packten ein paar Sachen zusammen und quartierten sich bei Ksenya Kayans Mutter im Zentrum ein. Die Logik: Wer wird schon auf die Stadtmitte und Bewohner zielen?

Bildrechte: Ksenya Kayan

Ksenya Kayan mit Sohn Bogdan, der im März bei einer Explosion in Mariupol verstarb

Es kommt anders, Zivilisten werden in diesem Krieg nicht verschont. Vor dem Dramatheater in Mariupol, in dem Hunderte Menschen Schutz gesucht hatten, stand weithin sichtbar "Deti" – "Kinder". Die Russen haben trotzdem Bomben abgeworfen. Ein Kriegsverbrechen, urteilt die OSZE. Genauso wie die Bombardierung der Geburtsklinik in Mariupol. Das Haus von Ksenya Kayans Mutter wird am 11. März getroffen. "Ich weiß nicht, womit unser Haus beschossen worden ist, aber es waren so viele heiße Granatsplitter, dass das Haus durchsiebt wurde."

Ksenya Kayan spricht langsam und bedächtig, sie will genau sein, Zeugnis ablegen. "Ich habe sofort verstanden, dass Bogdan tot ist. Das Herz einer Mutter kannst du nicht täuschen." Nachdem Ksenya Kayan zusammen mit ihrer Mutter der Hölle von Mariupol entkommen konnte, ist sie nach Österreich geflüchtet. Vor ein paar Tagen konnte auch der Vater von Bogdan zu ihnen stoßen. Er hatte noch mehrere Wochen in Mariupol ausgeharrt, um seinen Sohn beerdigen zu können.

Die Bedeutung Mariupols für die Ukraine

Die Gefahr war für Ksenya Kayan lange zuvor schon Alltag: Schon seit 2014 ist Mariupol umkämpft. Kurz war die Stadt von prorussischen Separatisten besetzt, aber die ukrainische Armee konnte sie zusammen mit dem Bataillon Asow zurückerobern, Donezk und Luhansk blieben in der Hand russlandtreuer Separatisten. In Mariupol wollte die Ukraine zeigen, was sie kann: Sie sollte das Schaufenster zu einer demokratischen, bunten und dynamischen Ukraine sein. Im Krieg wurde die Stadt das Symbol für den Widerstand der Ukrainer. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij erklärte die Hafenstadt am Asowschen Meer zur "Heldenstadt", ein Titel, den sonst nur Städte der ehemaligen Sowjetunion tragen, die im Zweiten Weltkrieg großen Widerstand gezeigt haben. Außerdem bezeichnete Selenskij Mariupol als "Herz des Krieges".

Ksenja Kayan hat wochenlang im eingekesselten Mariupol ausgeharrt. Sie kann damit wenig anfangen. "Das Herz des Krieges ist Romantik. Bei uns war keine Romantik. Bei uns waren nur Angst und Tod. Deshalb würde ich sagen, es war die Hölle auf Erden."

Angriff auf Gefangenenlager in der Ostukraine: 53 Asow-Kämpfer sterben

Inzwischen wird in Mariupol nicht mehr gekämpft, aber der Krieg geht weiter. 53 Kämpfer des Regiments Asow sterben bei einem Angriff am 29. Juli auf das Gefangenenlager in Oleniwka in der sogenannten "Donezker Volksrepublik". Mehr als 75 Kriegsgefangene werden verletzt. Beide Seiten geben sich dafür die Schuld. Russland bezichtigt die Ukraine, das Gefangenenlager mit einer Rakete bewusst beschossen zu haben.

Die Ukraine geht indes von einer gezielten Tötung der Gefangenen aus dem Stahlwerk "Asowstal" durch eine Explosion aus. Die russische Seite verheddert sich schon bei den Angaben der Verletzten. Die Vertreterin der sogenannten "Donezker Volksrepublik", Daria Morosova, gibt an, dass keine Mitarbeiter des Gefangenenlagers verletzt worden seien. Das russische Verteidigungsministerium spricht indes von acht Verletzten unter dem Personal.

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