Das muss ein denkwürdiger Auftritt gewesen sein: Arthur Cravan (1887-1918) saß spärlichst bekleidet vor seinem Pariser Publikum, las eigene Texte, hob dabei ein Glas Absinth – und verkündete, er werde sich vor aller Augen tot trinken. Gut, der künstlerische Provokateur, fast zwei Meter groß und ein begnadeter Faustkämpfer, ist dann auf anderem Wege ins Jenseits gegangen. Im Roman "Das ist einer, der lebt!" holt ihn Manuel Niedermeier zurück aus dem Vergessen. Zu Lebzeiten, so erzählt der aus Regensburg stammende Schriftsteller, war Cravan – Neffe von Oscar Wilde – ein bunter Hund.
Gegen die Normen seiner Zeit
"Die gesamte Kunst- und Literaturszene wusste, wer er war", sagt Manuel Niedermeier im BR-Interview. "Nicht nur in Paris. Sein Ruf ist ihm vorausgeeilt, als er nach New York gegangen ist. Aber dann ist er schnell in Vergessenheit geraten. Weil er hauptsächlich Aktionskunst betrieben hat. Er hat sich selbst als Schriftsteller betrachtet. Und er hat dementsprechend gelebt und die ganzen Normen der damaligen Zeit ad acta gelegt. Aus heutiger Sicht könnte man ihn unter Umständen auch als queer betrachten."
Arthur Cravan – man kann den Namen auf Französisch und ebenso auf Englisch aussprechen – steht im Zentrum von Niedermeiers Roman "Das ist einer, der lebt". Und mit dieser schillernden historischen Figur ebenso die künstlerische Avantgarde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Doch die Geschichte bewegt sich nicht nur in der Vergangenheit. Sie spielt zu gleichen Teilen in der Gegenwart. Ralf, Werbetexter aus Berlin, ebenso Poet, ebenso verletzlich, ist fasziniert von der Lebensgeschichte des Künstlers und Boxers.
Nächtlicher Redeschwall am Computer
Auf den Tag genau 100 Jahre nach Arthur Cravan geboren erzählt Ralf von dessen und von der eigenen Biographie. Das alles in einem nächtlichen Life-Stream am Computer, ausgestattet mit einer Drogen-Dosis. "Ich glaube, dass wir alle immer wieder mit den Unwägbarkeiten der eigenen Familie oder der Zeit und des Schicksals konfrontiert werden", so Manuel Niedermeier.
Und das habe ihn interessiert: "Wie geht man als Kind damit um? Und wie führt man diese Geschichte weiter? Als Kind ist man den Umständen ausgeliefert. Aber trotzdem legt man schon den Grundstein für sein späteres Leben. Und im Fall von Ralf hat mich interessiert, was für ein künstlerisches Potenzial man daraus entwickelt. Und was Kunst und Literatur heute überhaupt noch ist." Ralf, Manuel Niedermeiers Erzähler, redet sich in Rage – und springt erzählend beständig zwischen den Zeiten hin und her. Eine spannende Romankonstruktion.
Geschichte eines Gezeichneten
Der Mann vor der Kamera ist, das wird immer klarer, in verschiedener Hinsicht gezeichnet. Die Eltern haben sich getrennt, der Vater ist in der Ferne, die Mutter fordernd. Und die Frau, mit der Ralf zusammen war, Malgorzata, aus der Nähe von Warschau stammend und Literaturwissenschaftlerin, ist gestorben – er lebt nun mit den beiden Kindern allein. Sein nächtlicher Monolog am Bildschirm ist auch Versuch, einen tiefen Riss im Leben zu bewältigen.
"Sie beschäftigt sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit Literatur", erzählt Manuel Niedermeier, heute zu Hause in Berlin, über die weibliche Hauptfigur im Roman. "Vor allem mit der Avantgarde, mit Avantgardistinnen. Und ich fand spannend, wie sie als Figur noch stärker ist als Ralf - in dem, was sie beschäftigt, in dem, wie sie agiert, wie sie vorgeht und was sie auch für eine Rolle für Ralf spielt. Da ist sie eindeutig die stärkere Person."
Arthur Cravans rätselhafte Existenz
Zwischen den Liebenden und ihren Lebensgeschichten immer wieder Arthur Cravan und seine Biografie, voller Verve erzählt. Manuel Niedermeier, Absolvent der Bayerischen Akademie des Schreibens, folgt dem Künstler-Boxer-Dandy bis nach Mexico. Dort lebte Cravan zeitweilig mit seiner Frau, der Dichterin Mina Loy. Im November 1918 bestieg er ein kleines Boot und wollte auf dem Pazifik nach Südamerika segeln. Er verschwand auf Nimmerwiedersehen.
"Noch Jahrzehnte, nachdem er gestorben ist", so Manuel Niedermeier, "gab es, immer wieder, wenn ein Buch aufgetaucht ist, die Vermutung, dass Arthur Cravan das möglicherweise unter Pseudonym hätte schreiben können, im Exil oder aus dem verschollenen Raum heraus. Weil ihm niemand abgenommen hat, dass er gestorben ist. Er hat die Leute so lange an der Nase herumgeführt, dass sie ihm nicht einmal den eigenen Tod oder das Verschollen-Sein im Pazifik abgenommen haben."
Eine eigenwillige historische Figur - und eine Lebensgeschichte, die gespiegelt wird mit den Biografien junger Menschen in unserer Zeit. Manuel Niedermeier erinnert an einen nach wie vor faszinierenden künstlerischen Aufbruch im frühen 20. Jahrhundert. Und bringt die, die seinem Roman "Das ist einer, der lebt!" folgen, ganz heimlich zum Nachdenken über die Frage, was uns in der Gegenwart noch verbinden könnte mit der künstlerischen Avantgarde und ihren vielen exzentrischen Köpfen.
Manuel Niedermeiers Roman "Das ist einer, der lebt!" ist gerade bei Penguin erschienen.
Am 10.3. ist Buchpremiere in München, im Literaturhaus. Am 5. Mai liest Manuel Niedermeier in Bamberg, am 7. Mai in Redwitz an der Rodach.
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