Die Perspektiven haben sich verschoben, die Realität steht Kopf: Bäume wachsen von der Decke und Bagger fahren die Wände hoch. So geht's grad zu, im Kopf von Lydia Daher – beziehungsweise im Video zum Titelsong ihrer neuen EP "Penetrante Realität". Diese penetrante Realität mit diesem penetranten Virus.
Das fehlende Live-Erlebnis von Kunst
Wie immun sind Künstler und Künstlerinnen wie Lydia Daher in Zeiten von akuter Auftrittslosigkeit bezüglich der Frage: Was ist das eigentlich, was ich da tue? Was ist es wert? "Ich kann mich mit meiner Kunst, die nicht auf Kommerzialität ausgelegt ist, nicht mehr live präsentieren. Das heißt, diese kleinen schönen Momente, dass man Feedback bekommt von ein paar Leuten – und seien es nur wenige nach einem Live-Event, nach einer Lesung, nach einem Konzert –, die fallen jetzt weg", sagt Daher.
Vergeblichkeit nicht gleich Scheitern
Der Song "Gut und vergeblich" ist eine Hymne des Kultur-Prekariats, dem es durch Corona noch schlechter gehe als zuvor, erzählt Lydia Daher. Die Frage nach der Vergeblichkeit und der Bewertung dränge sich jetzt natürlich noch mehr auf: "Mich stört nämlich ein wenig, dass das Vergebliche und die Vergeblichkeit häufig mit dem Scheitern gleichgesetzt werden. Aber es ist etwas völlig anderes. Meiner Meinung nach ist alles, was wichtig ist in unserem Leben, relevant, existenziell oder wie man das auch immer nennen mag, zu einem Teil vergeblich oder es birgt das Potential der Vergeblichkeit in sich", sagt Daher.
Was aber selbst in Krisenzeiten immer funktioniert und glücklich macht: Cat Content. Irgendwas mit Katzen. "Katzenliebe" heißt ein Instrumental-Rumpler auf dem Album. Erinnert an den Gesang eines räudigen Katers, findet Lydia Daher. Das Stück ist das Ergebnis einer Improvisation zusammen mit den beiden Jungs ihrer Tourband Überträger. Überhaupt: Die Entstehungsphasen von "Penetrante Realität" sind schon recht bemerkenswert: Die meisten Lieder lagen bei Lydia seit geraumer Zeit als halbfertige Songs mit Dummy-Texten in der Schublade. Im ersten Lockdown im Frühjahr nun wurden – Zeit war ja plötzlich genug vorhanden – die Songskizzen überarbeitet und die Platzhalter-Texte durch Pandemie-Poesie ersetzt.
Poetische Pandemie-Popsongs
Mit Corona ist es ein bisschen auch so wie mit dem Song "Die Stadt": Repetitive Klänge und Gesänge wiederholen sich permanent und penetrant. Und man weiß nicht: Wird das jemals aufhören? Und wie ist das jetzt mit der Vergeblichkeit? Kann man ihr etwas Gutes abgewinnen? Eine ziemlich gute Antwort liefert Lydia Daher im poetischen Pandemie-Popsong "Piratensender": die eigene Stärke, das Sendungsbewusstsein spüren und sich nicht von Störgeräuschen aus dem Takt bringen lassen. Und wenn diese Geräusche noch so penetrant sein mögen. "Jetzt sitzt man eben nur noch da und fragt sich: Was mache ich eigentlich? Ist das nicht total sinnlos?", so Lydia Daher. Und ihre Antwort lautet: "Nein, ist es nicht, Es ist vielleicht vergeblich, aber nicht sinnlos."
Das Mini-Album "Penetrante Realität" von Lydia Daher und Übertrager ist beim Label Kleine Untergrund Schallplatten erschienen.
Cover des Mini-Albums "Penetrante Realität"
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