Von einer größeren Öffentlichkeit eher unbeachtet formulierte António Guterres, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, vor kurzem in einer seiner Reden einen bemerkenswerten Satz: "We need disruption to end the destruction." Wir benötigen Disruption, also Unterbrechung, Störung, um die Destruktion, die allgegenwärtige Umweltzerstörung zu beenden, so ließ sich der 73-Jährige vernehmen. Ein Satz, den es deshalb zu notieren lohnt, weil er sich in vollkommener Übereinstimmung mit dem Vorgehen der Klimaaktivisten von der "Letzten Generation" befindet. Deren Motto lautet nicht umsonst: "den Alltag unterbrechen". Damit ist zum Beispiel der Verkehr gemeint, dessen Fluss man durch Sitzblockaden und das Sich-Festkleben an den Asphalt unterbricht, zur Empörung nicht weniger Autofahrer.
Zu diesem Vorgehen sehen sich Aktivistinnen wie Lina Johnsen genötigt. Alle anderen Formen des Widerstands gegen den von ihnen sogenannten "fossilen Wahnsinn" hätten versagt, so die 1998 geborene Studentin: "Wir drehen ja zum Beispiel Öl-Pipelines ab, wir demonstrieren vor den Regierungsgebäuden. So ein Protest wird ignoriert. Wir können nicht mehr ignorierbar sein, und wir sind nur ignorierbar, wenn wir größtmögliche Störung im öffentlichen Raum, also in der Gesellschaft hervorrufen."
Das Ziel: Durch Störung nicht mehr ignorierbar sein
Was Lina Johnsen in ihrer den Aktivisten eigenen Aufgeregtheit sagen wollte, war natürlich: Sie seien nur dann nicht ignorierbar, wenn sie größtmögliche Störung hervorriefen. Störung ist nichts anderes als Disruption – ein Begriff, dem man eine außergewöhnliche Karriere seit seinem Aufkommen in den 1990er-Jahren attestieren darf. Denn ursprünglich war er das Mantra der Neoliberalen, gleichsam die berühmte "schöpferische Zerstörung" Joseph Schumpeters 2.0.
Disruption, das riefen sie im Silicon Valley und machten sich daran, Kommunikationstechnologien zu erfinden, die uns in unserem Alltag permanent unterbrechen. Jürgen Habermas hat unlängst mit Blick auf den von Twitter und anderen Plattformen ausgelösten "neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit" viel zu vorsichtig gemutmaßt, diese hätten "möglicherweise disruptive Auswirkungen für die politische Öffentlichkeit". De facto sind diese Auswirkungen immens, und man muss gar nicht nur auf die Politik schauen, zu deren Alltag es heute gehört, mehr oder weniger gerechtfertigte Entrüstungsstürme in den sozialen Netzwerken abzuwettern.
Kopie eines neoliberalen Dogmas
Diese Erfahrung machen doch viele von uns: Wessen Arbeitsalltag durch diese ständigen Störungs- und Ablenkungsmanöver unterbrochen wird, kann selbst beurteilen, ob sie produktiv sind oder oft eben doch einfach nur nerven. Mittlerweile muss sich zu den Nostalgikern rechnen lassen, wer beim Stichwort "Unterbrechung" oder neudeutsch "Disruption" an die Zeiten erinnert, da es im Radio hieß: "Wir unterbrechen das Programm für eine aktuelle Meldung." Heute werden wir durch Push-Meldungen auf den Smartphones, durch Teams-Chats und Zoom-Calls permanent aus unserem Tun herausgerissen. Strategieberater versuchen uns Überforderten ein Denken zu verkaufen, "das der Zukunft gewachsen ist" und nennen es "disruptive thinking".
Da erscheint es fraglich, ob ein Aktivismus funktioniert, der das Dogma des modernen Kapitalismus kurzerhand kopiert, indem auch er nun auch noch unseren an Unterbrechungen nicht gerade armen Alltag zu unterbrechen sucht. Natürlich muss auch der Aktivismus den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgen, aber eine seiner Aporien dürfte genau darin bestehen, dass es ihm mutmaßlich nicht gelingen wird, "den Wandel in der Wirtschaft" und im allgemeinen Bewusstsein einzuleiten, indem er den eingeübten Verfahrensmustern dieser Wirtschaft, namentlich der Tech-Giganten folgt.
Andere nehmen Abstand von "disruptiven Taktiken"
An der Spitze von Twitter, der Hauptbühne des Aktivismus, sitzt in Gestalt von Elon Musk seit einigen Monaten selbst ein Aktivist, freilich ein "far right activist", wie das amerikanische Magazin "The Atlantic" zu recht schrieb. Das ist so folgerichtig wie bezeichnend. Der Soziologe Hartmut Rosa hat kürzlich bezweifelt, ob es zielführend ist, dass "die Jugendlichen", die auf der Straße kleben, "Disruption um der Disruption willen" wollen. Sie sind als Millennials Kinder ihrer Zeit. Es geht nicht darum, sich über sie zu erheben, aber es spricht einiges dafür, dass es so einfach nicht ist, wie António Guterres sagte: "We need disruption to end the destruction."
Die Aktivisten der britischen Umweltschutzbewegung "Extinction Rebellion" scheinen bereits die Ausweglosigkeit der Protestlage erkannt zu haben. Zum Jahreswechsel 2022/23 gaben sie bekannt, dass sie bei aller Feier der Kraft der Disruption vorerst von "disruptiven Taktiken" Abstand nehmen würden - das heißt keine Straßenblockaden mehr, keine Gemälde-Attacken mit Erbsen- oder Tomatensuppe mehr, auch keine Farb-Spritzereien mehr auf die Fassaden von Unternehmenssitzen. Stattdessen ist eine Demonstration am 21. April in London das Ziel. Man wird sehen, ob auch bei der "Letzten Generation" ein Umdenken einsetzt.
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