Die Vergangenheit bricht immer wieder in die Gegenwart dieses Ortes ein: die Risse in den Küchenfliesen zeugen von ihr, die Straßen, die sich leicht senken, und auch die Kirche, einsturzgefährdet und gesperrt. All das erzählt davon, was unter diesem Ort lag und liegt und worüber niemand wirklich sprechen will. Ein Bergwerk zum Schinden von Mensch und Tier. Ende des 19. Jahrhunderts wurde hier nach Gold gesucht, später, im Zweiten Weltkrieg entstand ein Arbeitslager zum Montieren von Flugzeugteilen, ein – wie Raphaela Edelbauer es formuliert – bombensicherer Ort, der zudem den Vorteil hatte, dass die Bevölkerung bereits an den Anblick hungernder Menschen gewöhnt war. Sie schaute weg, auf dem Weg zur Arbeit und zur Kirche: Diesen beiden historischen Ebenen fügt Edelbauer noch eine dritte, sehr aktuelle hinzu: Ein "Auffüllungstechniker" besucht die Stadt, sein Auftrag: Endlich zuschütten, zuspritzen – dieses Loch in der Erde und die Erinnerung, für die es steht. Auch dieser Mann könnte nachfragen. Aber dafür sei er nicht gekommen, erklärt er, interessiert nur an der technischen Machbarkeit seiner Aufgabe. Ein starker Eröffnungstext eines starken ersten Tages, bei dem sich die Jurymitglieder aufeinander einstellen und sich die beiden neuen Stimmen vorstellen konnten.
Die Neuen in der Jury
Nora Gomringer ist zum ersten Mal Teil der Jury, wie Insa Wilke – die sogleich versuchte, die traditionelle Inszenierung der Veranstaltung etwas aufzubrechen. Direkt spricht sie die Lesenden an und wehrt sich damit auch gegen die aus der Zeit gefallene Hierarchie des Lesewettbewerbs. Mit Wilke hat auch Klaus Kastberger einen Gegenspieler gefunden, der mit seinem bissigen Humor in den vergangenen Jahren zum Publikumsliebling und heimlichen Zentrum der Jury geworden ist. Dieses Jahr eröffnete er so:
"Als Leser des Textes finde ich das wirklich total langweilig, diese Passagen. Die sind wie Wikipedia-Einträge. Bildungsstoff abgepackt fürs deutsche Gymnasium aus Afrika." Klaus Kastberger
Die Kritik ging in Richtung Stephan Lohse, der sich dafür entschied, die Kolonialgeschichte des Kongos mit der persönlichen Geschichte zweier Jungen aus – wer weiß, Deutschland? – zu verweben: Einen Joint lang beobachtet er Mattes und Lulumba. Außenseiter sind die, der eine: ein schwuler, weißer Afro, der andere verliebt in eine Prostituierte, deren große Kunst darin besteht, echt zu wirken. Nichts sei wahrhaftiger, erklärt er seinem Freund, als ihre Leidenschaft. Und der? Wählt sich einen schwarzen Freiheitskämpfer zum Vorbild oder besser: zur Projektionsfigur, Lulumba eben, mit dessen Hilfe Philip anders zu sein hofft.
Der beste erste Satz
Den inoffiziellen Preis für den besten ersten Satz hat Klaus Kastberger bereits heute vergeben – an Martina Clavadetscher: "Das letzte Schnappen macht den Unterschied." Damit beginnt die Erzählung einer Großmutter, die im Sterben liegt. Auch im vergangenen Jahr gab es diesen Preis – wieder nur inoffiziell. Damals für die poetische Beschreibung einer Himbeere und ihrer besonders pelzigen Oberfläche. Offiziell bekam Eckhart Nickel für das Porträt dieser Beere und das, was darauf folgte, dann immerhin den 3. Preis, um den die 14 Autoren hier in den kommenden Tagen weiterhin wettlesen. Hoffnungen dürfte sich da auch der bayerische Kandidat machen: Joshua Groß glänzte mit einem Text, der sehr bildstark dem Lebensgefühl seiner Generation nachspürt – Mitzwanzigern auf der Suche nach echten Erfahrungen.