Zwei Männer und zwei Frauen ziehen kräftig am Seil
Bildrechte: Sergei Malgavko/Picture Alliance

Seilziehen auf der Krim: Junge Leute im Einsatz

    Kreml-Umfrage: 30 Prozent der Russen wollen Krieg sofort beenden

    Eine vertrauliche Erhebung im Auftrag der russischen Regierung bestätigt die Einschätzung von kremlkritischen Soziologen: Vor allem die Alten und die öffentlich Bediensteten unterstützen Putin, die Jugend ist mehrheitlich gegen den Angriffskrieg.

    Das gewöhnlich gut unterrichtete oppositionelle Portal "Meduza" will an die Daten einer bisher nicht veröffentlichten Meinungsumfrage im Auftrag des Kreml gekommen sein und beruft sich dabei auf mehrere Quellen. Demnach waren Ende Juni dreißig Prozent der Befragten für einen sofortigen Waffenstillstand. 13 Prozent wollten sich nicht äußern, 57 Prozent waren für die Fortsetzung des Krieges, allerdings mit deutlichen regionalen und altersmäßigen Unterschieden. So sollen in St. Petersburg und Moskau sogar vierzig Prozent der Befragten gegen weitere Kampfhandlungen sein.

    Drei von vier Senioren unterstützen Krieg

    In den übrigen Großstädten Russlands allerdings zeigt sich ein völlig anderes Bild: Dort gibt es fast eine Zweidrittel-Mehrheit für den Krieg. Soziologen vermuten, dass es vor allem der Sicherheitsapparat ist, der hinter solchen Zahlen steckt. Der öffentliche Dienst sei in manchen Großstädten eben besonders dominierend.

    Sehr deutlich wurde in der Umfrage, dass die russische Jugend den Krieg mit deutlicher Mehrheit ablehnt. Demnach sind von den unter 24-jährigen, also denen, die Wehrdienst leisten müssen, sogar 56 Prozent für ein sofortiges Kriegsende, bei den unter 34-jährigen wollen immerhin 43 Prozent und damit eine relative Mehrheit die Feindseligkeiten stoppen. Umgekehrt wollen unter den Senioren über 60 Jahre fast Dreiviertel den Angriffskrieg weiterführen.

    "Krieg der Alten und der Sicherheitsbeamten"

    Direkt damit in Verbindung steht die völlig unterschiedliche Mediennutzung von alt und jung: 47 Prozent der Menschen, die sich überwiegend im Netz informieren, wollen den Krieg beendet sehen, aber nur 22 Prozent der TV-Konsumenten. Ein Beweis dafür, dass Propaganda im Staatsfernsehen durchaus eine gewisse Wirkung entfaltet, auch, wenn die dortigen Redaktionen den Krieg inzwischen in den Nachrichtensendungen thematisch gern weiter "hinten" einordnen, um das Publikum vor "Ermüdung" zu bewahren.

    "Das ist ein Krieg der alten Menschen und der Sicherheitsbeamten, die das Land in der Vergangenheit einsperren wollen", so der Soziologe Grigori Judin gegenüber "Meduza". Eine Gruppe von Investigativ-Journalisten des russischen Portals "Projekt" legte eine Studie darüber vor, wie sehr die teils korrupten und mit dem Kreml finanziell verfilzten Umfrage-Institute in Russland inzwischen politisiert und manche Umfragen geschönt sind. Schon seit Jahren dienten sie der Schaffung einer "alternativen Realität". Dass sehr viele Menschen gar nicht mehr antworten, werde nicht kommuniziert.

    "Wir sollten Wladimir nicht beunruhigen"

    Der Fachmann Sergei Haikin zum Beispiel habe den Widerstand der erwähnten Bevölkerungsgruppen gegen den Krieg schon frühzeitig gemessen und wollte seine Zahlen Putin vorlegen, doch dessen Apparat habe geantwortet: "Wir sollten Wladimir Wladimirowitsch nicht beunruhigen." Überhaupt verbiete der Kreml die Veröffentlichung aller für ihn "negativen" Daten, etwa diejenigen, die das Ansehen von Alexei Nawalny betreffen.

    Auch der politische Analyst und frühere Redenschreiber von Putin, Abbas Galljamow, zeigte sich gegenüber der "Novaya Gazeta Europe" sehr skeptisch, was die angeblich hohen offiziellen Zustimmungswerte für den Kreml betrifft: "Welche Art von Meinungsumfragen kann es in einer Situation geben, in der Sie sieben Jahre Gefängnis für [sogenannte] Antikriegsagitation bekommen?" Galljamow spielte damit auf den Fall des Rechtsanwalts und Moskauer Stadtrats Alexei Gorinow an, der wegen angeblicher "Fälschungen" über die Armee kürzlich tatsächlich zu einer derart langen Haft verurteilt worden war.

    "Putin versucht ein 'Gegenfeuer' zu legen"

    Das Thermometer, das die "öffentliche Temperatur" messe, sei in Russland defekt, so der Politologe, daher könne die tatsächliche Stimmung nur "durch indirekte Zeichen" ermittelt werden. Grob gesagt sei ein Drittel für Putin, ein Drittel dagegen und ein Drittel desinteressiert oder unentschieden: "Putin zwingt gewissermaßen diejenigen, die zögern, sich festzulegen, auf seine Seite. Er will, dass neutrale Bürger jetzt entscheiden, bevor ihre Proteststimmung stärker wird und sie schlussendlich ins Lager der Opposition wechseln. Wenn ein Wald oder eine Steppe brennt, versuchen sie ja manchmal auch, den Brand durch ein Gegenfeuer zu stoppen."

    Galljamow schätzte die Zahl der Kriegsgegner, ohne konkrete Belege dafür zu nennen, auf "32 bis 37 Prozent". Viel aussagekräftiger als die offiziellen Zahlen sei zum Beispiel die Antwort der Russen auf die Frage, welchem Politiker sie besonders vertrauten, und zwar mit der Möglichkeit, beliebige Namen zu nennen: "In dieser Umfrage für den letzten Monat, von Mai bis Juni, büßte Putin acht Prozentpunkte ein, von 43 auf 35 Prozent. Ich denke, das ist ein Indikator." Sollte sich das Regime für noch mehr Repression entscheiden oder dazu getrieben sehen, rechnet der Experte mit einer Zustimmung von allenfalls zwanzig Prozent der Bevölkerung, was Putins Legitimität ernsthaft bedrohen werde.

    500 Vertragssoldaten aus Burjatien "kündigten"

    Dass es in der russischen Armee wenigstens zum Teil mit der Kriegsbegeisterung nicht mehr weit her ist, zeigt die Meldung, wonach kürzlich rund 500 Vertragssoldaten aus Burjatien gekündigt haben sollen, wie die "Moscow Times" erfahren haben will. Das ist möglich, weil Russland nicht den Kriegszustand erklärt hat, sondern nach wie vor von einer "Spezialoperation" in der Ukraine spricht. Uniformierte, die nicht mehr an der Front eingesetzt werden wollen, werden zwar unter Druck gesetzt und auch gekündigt, allerdings nach Recherchen oppositioneller Medien mangels Handhabe nicht bestraft.

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