Der russische Präsident in nachdenklicher Pose
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Wladimir Putin

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"Kreml trickste sich selbst aus": Debatte über Putins Versagen

Womöglich hat sich die russische Regierung mit ihrer Geheimniskrämerei selbst geschadet, so Kritiker. Außerdem habe Putin weder die Korruption in den Griff bekommen, noch die Logistik und "Privatarmeen". Allerdings gebe es eine "steile Lernkurve".

"Rein hypothetisch" sei eine Niederlage Russlands durchaus möglich, so Politologe Dmitri Trenin, früher mal Oberst beim Militärgeheimdienst. Sie könne sogar zum "Zusammenbruch der russischen Staatlichkeit" führen: "Der Einsatz Russlands in dem andauernden Konflikt ist daher so hoch wie möglich und grundsätzlich höher als der der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten. Das ist an sich schon ein Faktor, der zu Gunsten Russlands wirkt, aber natürlich nicht seinen Erfolg garantiert."

"Wolken der eigenen Fantasie"

Wichtig sei dabei vor allem, eine Elite zu schaffen, "die ihrem Land ergeben ist und dient und erst dann sich selbst". Offenbar ist das nach Trenins Eindruck bisher noch nicht der Fall. Jedenfalls macht er sich Gedanken darüber, was bei einem "Wechsel der ersten Person" alles passieren muss, um Russland zu stabilisieren. Eine "solide Volksbasis" sei unverzichtbar, wie auch die Bereitschaft zu Realismus: "Daher ist es bei der Bewältigung der Krisen unserer Zeit besonders gefährlich, in den Wolken der eigenen Fantasien zu schweben. Es ist nicht weniger gefährlich, sich einem Strom anzuvertrauen und sich seiner Gnade auszuliefern."

"Geheimhaltung war ein Fehler"

Tatsächlich zählt auch Dara Massicot von der amerikanischen RAND Corporation, einer konservativen Denkfabrik, in ihrer aktuellen Analyse für das Fachblatt "Foreign Affairs" den ausgeprägten Hang des Kreml zur Selbsttäuschung und Geheimniskrämerei zu den Hauptschwächen von Putins Regime. Es habe sich quasi "selbst ausgetrickst": "Die Geheimhaltung war ein Fehler. Indem Putin den Angriff mit nur einer kleinen Gruppe von Beratern orchestrierte, untergrub er viele der Vorteile, die sein Land hätte haben können."

Schon drei Monate vor dem Angriffskrieg hätten die USA die Pläne öffentlich gemacht, aber Putins eigene Generäle seien davon überrumpelt worden: "Die übermäßige interne Geheimhaltung ließ Truppen und Kommandanten wenig Zeit, sich vorzubereiten, was zu schweren Verlusten führte." Die "New York Times" mutmaßte, Putin sei womöglich wegen seiner strikten Corona-Isolation und der Angst vor Ansteckung so schlecht informiert und eigenbrötlerisch gewesen.

"Im September erwartet uns die Hölle"

Dagegen vermutet der ukrainische Politologe Viktor Tregubow in einem Essay für den "Atlantic Council", Putin sei seiner eigenen Propaganda erlegen, wonach die Ukraine russisch geprägt sei: "Solche Wahnvorstellungen scheinen bis in die oberen Ränge der russischen Führung vorgedrungen zu sein. Zu keinem Zeitpunkt im Vorfeld des Krieges scheint irgendjemand im Kreml die Idee einer ukrainischen Staatlichkeit ernst genommen zu haben." Jetzt drohe die "Fassade einzustürzen" und Putin habe sich im Wesentlichen darauf verlegt, das "heimische Publikum" bei Laune zu halten.

Dafür spricht die Meldung, wonach Putin seine Zentralbankchefin Elvira Nabiullina gedrängt hat, weniger "deprimierende" Prognosen herauszugeben. In russischen Telegram-Kanälen kursiert darüber die natürlich unbestätigte Anekdote, wonach Putin die Finanzexpertin telefonisch gefragt haben soll: "Nun, wann retten wir unseren Arsch? Bald? Oder müssen wir noch mehr bluten?" Daraufhin soll Nabiullina geantwortet haben: "Wladimir Wladimirowitsch, ich weiß nicht, wie es unserem Arsch gehen wird, aber im September erwartet uns die Hölle." Dass es so kommen könnte, darauf deutete das rekordhohe Haushaltsdefizit von umgerechnet rund 25 Milliarden US-Dollar allein im Januar hin.

"Leistungsfähigkeit überschätzt"

Verhängnisvoll ist nach Meinung von Dara Massicot auch die Unfähigkeit Putins, die grassierende Korruption in den Griff zu bekommen: "Russlands Modernisierungsbemühungen scheiterten auch daran, die Korruption auszurotten, die immer noch zahlreiche Aspekte des russischen Militärlebens beeinträchtigt." Es gebe eine höchst undurchsichtige Berichtpflicht nach oben, nach wie vor versickerten Gelder für Waffen und Munition. Außerdem sei die Armee bis vor kurzem kaputt gespart worden, viele Raketen seien verrottet. Putin habe die "Leistungsfähigkeit" der eigenen Truppe völlig überschätzt.

Nicht gerade hilfreich sei außerdem die völlige Fehlwahrnehmung der ukrainischen Bevölkerung gewesen, so Dara Massicot. Putin habe sich offenbar auf Geheimdienstberichte verlassen, wonach nicht einmal die Hälfte der Ukrainer bereit waren, ihr Land zu verteidigen: "Der Kreml wertete Daten aus, die es ihm ganz bequem ermöglichten, zu sehen, was er sehen wollte." Immerhin gebe es eine "steile Lernkurve", so die Expertin. Die Rüstungsproduktion werde angekurbelt, die Armee habe sich manche Fähigkeit angeeignet, etwa Flüsse ohne massive Infanterie-Verluste zu überqueren: "Nur die Zeit wird zeigen, ob Russland seine Invasion retten kann oder ob sich die ukrainischen Streitkräfte durchsetzen werden."

"Fehlt an notwendiger Kampfkraft"

Schon im vergangenen Dezember hatte der "Business Insider" seinen Lesern die seiner Meinung nach "5 größten Schnitzer" Putins präsentiert: Konfuse Strategie der Militärs, Unterschätzung der Ukraine, Aufgabe eines großen Waffenarsenals beim überstürzten Teil-Rückzug, vorschneller Verbrauch von Präzisionsgeschossen, Fehleinschätzung der westlichen Geschlossenheit.

Die "New York Times" berichtete seinerzeit, russische Soldaten hätten sich mit für sie ungewohnten Waffen erst durch Wikipedia-Artikel vertraut machen müssen, veraltetes Kartenmaterial gehabt, die eigenen Leute beschossen, keine verschlüsselten Funkgeräte besessen, völlig absurde Vormarschpläne ausgehändigt bekommen und letztlich "zu keiner Zeit eine Chance" gehabt.

Das "Institute for the Study of War" kommt in seinem neuesten Dossier zum Ergebnis, dass eine neue große Offensive Russlands mangels Munition "unrealistisch" sei. Es fehle "wahrscheinlich an der notwendigen Kampfkraft". Dafür spricht die Meldung, dass der russische Gazprom-Konzern seinen Sicherheitsdienst zu einer weiteren Privatarmee ausbauen will, dem Vernehmen nach, weil Putin mit den Söldnern der "Gruppe Wagner" inzwischen unzufrieden sei. Gleichzeitig stehe er unter dem Druck der "Ultra-Patrioten", die zum Beispiel die Sperrung von Youtube in Russland fordern.

Blogger kritisieren Abnutzungsstrategie

Derweil muss sich Putins Verteidigungsminister Schoigu herbe Kritik gefallen lassen, nachdem er auf einer Pressekonferenz behauptet hatte, die russische Armee "schleife" die Festungen der Ukraine. Das sollte wohl eine Umschreibung für eine Abnutzungsstrategie sein. Doch Militärblogger wie Igor Strelkow mit 800.000 Followern fragten sarkastisch: "Was sind die weiteren Aussichten für das 'Schleifen' unter der Bedingung, dass die Rüstungsindustrie der Russischen Föderation nicht in der Lage ist, die Armee vor Ort angemessen zu versorgen, während etwas mehr als eine halbe Million Soldaten an der Front und im Hinterland gegen uns stehen - die gesamte Macht der Rüstungswirtschaft der Vereinigten Staaten und der NATO?"

Blogger-Kollege Vladlen Tatarsky wundert sich, dass beim "Schleifen" angeblich "nur der Feind Verluste erleide": "Haben wir keine?" Im Übrigen habe sich gezeigt, dass die Ukraine immer wieder Reserven mobilisiere und weit davon entfernt sei, "nicht mehr so stark" zu sein.

"Mindestens irrational"

Einer der prominentesten Kriegsberichterstatter, Alexander Kots, verwies darauf, dass neuerdings Rekruten, die drei Monate lang zu Artilleristen ausgebildet wurden, an der Front in die Infanterie gesteckt werden: "Aus Sicht des gesunden Menschenverstandes sieht das mindestens irrational aus." Hintergrund ist wohl der eklatante Materialmangel der Armee. Es gibt nicht mehr genügend Geschütze und Panzer für die Mobilisierten, wie zahlreiche "Notrufe" in Telegram-Kanälen bestätigen. Sogar an Kleidung und Lebensmitteln soll es fehlen.

Davon lässt sich die Chefredakteurin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, nicht berirren: "Wir müssen die Zeiten zurückholen, in denen es cool war, Uniform zu tragen", schreibt sie euphorisch in einem Post: "Wenn sich alle Mädchen, wie in der schöngeistigen großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, in Offiziere verlieben, werden sie wieder ihre Mützen in die Luft werfen und nur einen Offizier heiraten wollen. Ein Offizier sollte von diesem Stolz erfüllt sein und das Land verteidigen und nicht daran denken müssen, dass er nichts bezahlen, leider nicht mal einen Kredit aufnehmen kann."

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