Man entwickelt vorab ein bisschen Angst vor diesem Film: Regisseur Patrice Leconte, inzwischen 75 Jahre alt, hat schon lange nichts Gutes mehr gemacht. Und der ikonische Kommissar Maigret aus dem Paris in der Mitte des letzten Jahrhunderts erscheint einem ziemlich Retro. Noch dazu verkörpert ihn jetzt Gerard Depardieu, 74 Jahre alt und gefühlt am Ende seiner Karriere angelangt.
Von jeder Schwerkraft befreit
In der zuletzt bei uns angelaufenen Gourmetkomödie "Der Geschmack der kleinen Dinge" spielt Depardieu einen Chefkoch, der keinen Appetit mehr aufs Leben hat. Depardieu gibt den erschöpften Bonvivant vergnüglich routiniert, als habe er all das ziemlich satt – nämlich immer wieder auf den lebenslustigen Franzosen mit dem mächtigen Bauch reduziert zu werden. Das Rollenprofil entspricht weniger der ungebrochenen Beliebtheit denn der Beleibtheit des Schauspielers. Dabei kann er auch ganz anders – kann wie kein anderer seinen massigen Körper transzendieren in komplexe existentielle Seins- und Seelenzustände, die von jeder Schwerkraft befreit sind. Regisseur Patrice Leconte setzt das jetzt in "Maigret" raffiniert ein für seinen dunklen Krimi – und beginnt bewusst mit einer Szene der körperlichen Hinfälligkeit.
Gerard Depardieu alias Jules Maigret sitzt im Unterhemd auf einer Liege. Routinecheck. Der Doktor ist alles andere als begeistert vom gesundheitlichen Zustand des Kommissars. Er fragt ihn, ob er nicht öfters außer Atem wäre. Ja, wenn er dem Bus hinterherlaufe, antwortet Maigret, oder wenn er Treppen steige. Dabei ahnen die Zuschauer sofort, dass dieser Mann nie öffentliche Verkehrsmittel benutzen würde, er lässt sich vielmehr chauffieren – und das Treppen steigen, ja, da braucht Maigret tatsächlich jeden Absatz eine kleine Pause. Doch trotz dieser Kurzatmigkeit, die nicht gespielt wirkt, sondern nur etwas überhöht, scheint Depardieu durch diesen Film zu schweben.
Gerard Depardieu spielt nicht, er ist Maigret
Als voluminöse Scherenschnittfigur bewegt er sich durch eine kalte, dunkle, unbarmherzige Stadt und will den Mord an einer jungen Frau aufklären, die aus der Provinz nach Paris kam. Systematisch rekonstruiert er deren einsame Wege und ihre Verbindung zu einem rätselhaften Pärchen aus der Pariser Bohème. Der Plot hakt bisweilen in seiner Logik, dafür sind die Dialoge in ihrem Minimalismus – reduziert immer wieder auf Andeutungen – großartig. Die Kamera von Yves Angelo passt sich der langsamen Dynamik des Hauptdarstellers an – und schon bald überkommt einen das Gefühl: Gerard Depardieu spielt hier nicht Maigret, er ist es.
In seinen Verhören erhebt er nie die Stimme oder droht, sondern entwickelt durch leise, monoton vorgetragene Worte eine wundersame Präsenz. Im Original mit Untertiteln deutlich mehr als in der Synchronisation. Allmählich kommen schmerzhafte Erinnerungen hoch, und wir im Kino ahnen anfangs eher, als wir es wüssten, dass Maigret und dessen Frau ihre Tochter verloren haben. Schicksale kreuzen sich.
Großes, klassisches Kino
Patrice Leconte inszeniert das visuell und atmosphärisch beeindruckend als zeitlosen Seelentrip durch Schmerz und Lebensüberdruss, gar nicht so sehr als Krimi, der nach Auflösung schreit, sondern in der Ausstattung eher beiläufig als eine Reise vom Dunkel ins Licht. Immer heller wird dieser Film gegen Ende, erhascht am Schluss sogar eine Ahnung von Glück und Erlösung. Alle anfänglichen Befürchtungen sind da vergessen – "Maigret" ist großes, klassisches Kino mit einem der faszinierendsten Schauspieler Frankreichs. Man muss ihm nur den Raum dafür geben.
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