"Wer einen Krieg beginnt, verliert immer. Diejenigen, die Zivilisten vergewaltigen, töten, foltern, sind Kriegsverbrecher. Diejenigen, die sie rechtfertigen - auch. Es ist unmöglich, mit Sadisten und Mördern zu sympathisieren", so Kirill Serebrennikow in einem Text, den er auf seinem Telegram-Profil veröffentlichte. "Ich sympathisiere mit denen, die unwissentlich in das schreckliche Kriegsverbrechen verwickelt wurden. Diejenigen, die noch nicht das Blut unschuldiger Menschen an ihren Händen haben."
"Etwas staut sich in mir, ohne Ausweg"
Bezugnehmend auf ein erschütterndes Pressefoto einer Frauenleiche mit lackierten Fingernägeln, die unter den Toten von Butscha war und als Irina Filkina (52) identifiziert wurde, schreibt der Film- und Theatermacher unter dem Titel "Roter Lack": "Jeden Tag schaue ich mir die Bilder des Krieges an. Ich schaue, ich schaue. Zerstörte Städte, verbrannte Autos, tote Menschen. Dieser rote Lack auf einer toten Hand. Jeden Tag, egal wo ich bin, kommt es mir vor, als würden Flugzeuge über mich hinwegfliegen, als müsste ich zum Luftschutzbunker rennen. Meine Freunde, die gegangen sind und wochenlang geblieben sind, weinen, Männer und Frauen. Aus irgendeinem Grund weine ich nicht. Etwas staut sich in mir, ohne Ausweg."
Die Frau aus Butscha habe vor dem Krieg Online-Kosmetikkurse belegt: "Von dort hat sie den roten Nagellack. Und dann kamen Leute aus meinem Land – die die gleiche Sprache wie ich sprechen – und töteten sie. Vielleicht erschien ihnen diese Farbe zu trotzig."
Homosexualität Tschaikowskys verstört Russen
Bei den Filmfestspielen in Cannes macht Kirill Serebrennikow (52) im dortigen Wettbewerb gerade Schlagzeilen mit seinem Film über die Homosexualität des russischen Komponisten Peter Tschaikowsky, dargestellt hauptsächlich aus der Perspektive von dessen leidgeprüfter Ehefrau Antonina Miliukova, die sich von der Hochzeit Wohlstand und Ansehen erhoffte. In Russland gilt Tschaikowskys sexuelle Veranlagung als unerwünschtes Thema, gilt der Tondichter doch wie Puschkin zu den viel genannten "Helden" der russischen Kultur.
Serebrennikow war in Russland wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Mittel zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden und stand lange unter Hausarrest und Ausreiseverbot. Gönner aus der Wirtschaft sollen die strittigen Subventionen von 1,5 Millionen Euro plus eine Geldstrafe von 800.000 Euro für ihn zurückgezahlt haben. Auf diese Weise kam er frei und konnte ins Ausland gehen.
"Russland hat wieder angefangen, Menschen zu verzehren"
Kultur sei in Russland immer nur trotz und gegen den Staat möglich, so Serebrennikow: "Manchmal mit dem Geld des Staates, aber immerhin - nicht in seinem Namen und nicht für ihn. Staat und Politik in Russland töten und trennen sich. Familien werden zerstört. Sie brechen Leben. Kultur rettet und sammelt das noch Menschliche im Menschen. Es gab viele Staatsformen in Russland, und alle hatten einen kannibalischen Charakter. Diese seltenen Jahre, in denen die Behörden in Russland keine Menschen aßen, werden Tauwetter genannt. Die Regierung hat sich gerade ausgeruht. Wieder angefangen, Menschen zu verzehren."
"Die Deutschen verstanden erst nach Nürnberger Prozessen"
Bei Kultur gehe es immer um das, was dem Staat nicht wichtig sei: "Um Barmherzigkeit für die Gefallenen. Um Mitgefühl. Um die Abgründe und Höhen des menschlichen Geistes. Um Verzweiflung. Um Einsamkeit. Um lustige, kleine, elende, nutzlose, unzeitgemäße Menschen. Um die Minderheit. Daher respektierten nur wenige Menschen des Staats die russische Kultur und fast niemand liebte sie."
Die Deutschen hätten "erst etwas vom Krieg verstanden, als sie zu den Leichen der Häftlinge von Auschwitz und Buchenwald" geführt worden seien: "Und als sie sie zwangen, diese Leichen mit ihren eigenen Händen zu begraben, ohne Handschuhe. Und nach den Nürnberger Prozessen."
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