Frau am Produktions-Fließband
Bildrechte: Dmitri Feoktistov/Picture Alliance

Flaschenkontrolle in Omsk

    "Kein Vertrauen in die Zukunft": Russen trinken wie nie

    Der größte russische Spirituosen-Hersteller meldet eine "überragende Verkaufsdynamik": Das wichtigste "Kulturgut" des Landes ist enorm gefragt: Seit Januar wuchs der Wodka-Umsatz um 25 Prozent. "Die Menschen trinken gegen den Dauerstress", heißt es.

    Was könnte für die russische Kultur wichtiger sein als Wodka? Er ist in Romanen, Opern und Theaterstücken stets präsent, in der Politik sowieso. Unvergessen der Erfolgsroman "Die Reise nach Petuschki" von Wenedikt Jerofejew aus dem Jahr 1969, wo sich die Hauptperson Wenja auf einer Bahnreise entlang der im Titel bezeichneten Strecke nach und nach sinnlos besäuft. Das Buch ist bis heute Kult - auch deshalb, weil Wenja sein Ziel natürlich niemals erreicht.

    In Nowgorod schickte der dortige Gouverneur einem 103-jährigen Kriegsveteran zum "Tag des Sieges" am 9. Mai eine Glückwunschkarte, ein paar Lebensmittel - und eine Flasche Wodka, was im russischen Netz nicht nur Zustimmung fand: "Eine unrenovierte Wohnung, ein vorsintflutlicher Fernseher, Setzlinge auf der Fensterbank statt eine Datscha. Glauben Sie wirklich, dass dieser Mann vor allem Wodka und eine Karte benötigt?"

    Wein gilt als "schwierig"

    Dem hochprozentigen Schnaps geht es ungeachtet dessen besser denn je. Seit Januar soll der Umsatz zumindest beim größten Anbieter, der Beluga-Gruppe, um sagenhafte 25 Prozent zugenommen haben, meldet "Moskowski Komsomolez" (MK). Der Durchschnittskonsum liegt demnach mittlerweile bei fünf Litern pro Person jährlich. Verbraucher-Funktionär Dmitri Janin hat dafür auch eine naheliegende Erklärung: "Die Menschen haben kein Vertrauen in die Zukunft. Sie haben Dauerstress, fragen sich, was mit dem Geld wird, wenn sie es noch haben, was mit ihren Lieben passiert. Die Menschen trinken den Stress runter."

    Allerdings überwiegend mit Wodka, nicht etwa mit Bier oder gar Wein, der in Russland als "schwieriges Getränk" gelte: "Wodka wird weiter an Dynamik gewinnen und neue Liebhaber finden: vielleicht hauptsächlich unter denen, die früher Wein getrunken haben." Angesichts des rasant gestiegenen Zuckerpreises, so Janin, sei vorerst nicht mit einem Anstieg der Schwarzbrennerei zu rechnen, die Russen werden sich demnach eher auf die Billigmarken konzentrieren.

    Universelle Währung für Klempner

    Arzt Jewgeni Arzamastsew verweist aktuell darauf, dass Russen Wodka von jeher nicht nur als Genussmittel verstehen, sondern eher als Arznei gegen alles. Ihm zufolge kann Alkohol in "kleinen Mengen" tatsächlich "nützlich" sein. Zum Beispiel als antibakterielles Mittel oder um den Körper bei Erkältungen aufzuwärmen, sowie zur "Verbesserung der Durchblutung". Allerdings ist Wodka der MK zufolge über den "bestimmungsgemäßen Gebrauch" hinaus auch als "universelle Währung" für Klempner im Umlauf und sei während der Pandemie als "Antiseptikum" besonders beliebt gewesen.

    Gennadi Onischtschenko (71), ehemaliger oberster Staatsgesundheitsbeamter der Russischen Föderation und ehemaliger Abgeordneter der Staatsduma, schloss sich derweil dem Eindruck an, dass seine Landsleute aus einem "Zustand der Unsicherheit" heraus trinken: "Niemand arbeitet, also trinken sie Wodka. Die Leute sind besorgt. Zwei Jahre lang waren wir wegen des Coronavirus verunsichert, mit all den Einschränkungen." Und die "Brüder von der Presse" hätten mit ihrer Berichterstattung zur miesen Stimmung beigetragen.

    Vielleicht sind damit Berichte aus Wolgograd gemeint, wonach Attacken auf die IT-Systeme neuerdings dazu beigetragen haben, dass die Bestell-Software des Einzelhandels nicht mehr richtig funktioniert und die Regale in Spirituosen-Abteilungen daher erschreckend leer seien. Das Problem sei womöglich "gesamtrussischer" Natur. Spötter würden sagen: Alles Gründe, zur Flasche zu greifen. Von der um sich greifenden Inflation allerdings ist Wodka bisher nicht betroffen. Die Statistiker ermittelten für die letzte April-Woche einen Preisanstieg um 0,2 Prozent.

    Ukrainer zog sich vom Markt zurück

    Still und heimlich hat sich der ukrainische Geschäftsmann Jewgeni Tschernjak mit seinem Unternehmen "Global Spirits" und den hochdynamischen, recht erschwinglichen Marken "Khortytsya" und "Morosha" inzwischen vom russischen Markt verabschiedet, wie der "Kommersant" herausfand. "Patrioten" können diesbezüglich also getrost trinken, so viel sie wollen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, damit ihrem Vaterland zu schaden.

    Einheimische Weine sind wegen der ungünstigen klimatischen Bedingungen von jeher deutlich teurer als die bisher importierten aus Südeuropa, daher wird auf diesem Markt mit einer Krise gerechnet. Auch Bier soll wohl eher auf dem Rückzug sein.

    "Ich trinke, obwohl ich nicht trinke"

    Wie wichtig der Schnaps gerade vor dem "Tag des Sieges" ist, der in Russland alljährlich am 9. Mai gefeiert wird, zeigt eine bizarre Umfrage in der "Komsomolskaja Prawda". Dort äußern sich Prominente zu der Frage, auf wen sie ihr Glas erheben. Der eine prostet "Marschall Schukow" zu, dem legendären Weltkriegshelden, ein anderer sagt: "Ich trinke, obwohl ich normalerweise nicht trinke, für alle Großväter - Russen und Nicht-Russen." Ein Science-Fiction-Autor beteuert: "Ich mag keinen Wodka, aber ich werde 50 Gramm für diejenigen aufbringen, die vorne wie hinten im Einsatz sind." In manchen sibirischen Städten wie Irkutsk und Barnaul wurde der Verkauf von Alkoholika am Festtags-Wochenende übrigens beschränkt.

    Fachschule braucht Alkohol für "Ausbildungszwecke"

    Für Verwunderung sorgte kürzlich eine Fachschule in Krasnojarsk, die Unmengen Alkoholika für "Bildungszwecke" auf Staatskosten orderte, darunter 26 Flaschen britischen Whisky, Cognac aus Frankreich und zehn Flaschen Wodka. Eine Sprecherin beteuerte, das alles diene der "Ausbildung von Barkeepern", was in der Presse mit ungläubigem Staunen quittiert wurde.

    Aus der Ukraine kommt derweil Schadenfreude: Von dort heißt es, drei Dinge seien in Russland zu jeder beliebigen Zeit anzutreffen, nämlich Wasser, Feuer und "besoffene Fallschirmjäger, die besoffene Bereitschaftspolizisten" prügelten. Russland liege am "Flaschenboden" darnieder. Seit 1761 seien auf Kriegsschiffen täglich mindestens vier Portionen Wodka ausgeschenkt worden, seitdem habe Alkohol seinen festen Platz im Militär.

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