José Antonio Suárez Londoño: Ein fröhlicher, energiegeladener Herr mit Brille, praktisch geschorenen Haaren und blau kariertem Kurzarmhemd. Das wichtigste Attribut aber hängt ihm quer über der Brust: Seine Zeichentasche. Eine unauffällige Stofftasche, gerade groß genug für ein Skizzenbuch und eine Auswahl an Bleistiften und Tintenrollern in verschiedenen Farben:
Es sind die einfachsten Sachen: Marker und Bleistifte, nichts Kompliziertes. - José Antonio Suárez Londoño
Autounfall und Sex-Szenen
„Nulla dies sine linea – keinen Tag ohne Linie“ habe der antike Maler Apelles verbracht, berichtet Plinius der Ältere. So gesehen ist José Antonio Suárez Londoño ein kolumbianischer Apelles der Neuzeit. Und wie viele Linien in so einen Tag hineinpassen, das wird einem erst in dieser Ausstellung bewusst: 1000 seiner Zeichnungen, Aquarelle, Radierungen und Stempeldrucke sind derzeit in der Villa Stuck zu sehen, ein Bruchteil seines Schaffens. Es sind kleinformatige Arbeiten, die meisten gerade einmal 5 bis 10 Zentimeter groß. Hier ein Autounfall, dort eine Sexszene, dazu ein Reiterstandbild oder ein Stuhl im Wasserglas.
"Zeichnen ist für mich wie Atmen"
Auch Stile gibt es viele, von klassisch realistischen Miniatur-Porträts mit aufwändig ausgearbeiteter Stofflichkeit und Plastizität bis zu comicartig abstrahierten Szenen. Erlebtes und Gelesenes, im Radio oder auf der Straße aufgeschnapptes oder bei Reisen Gesehenes bannt Suárez Londoño in eine Zeichnung. Während der Vorbereitung der Ausstellung zeichnete er den Friedensengel, den Kopf einer antiken Statue aus der Glyptothek, das Muster des Mosaikfußbodens im Atelier Franz von Stucks, Flugapparate aus dem Deutschen Museum, eine Baumgruppe aus dem Englischen Garten. Das gezeichnete Tagebuch eines München-Aufenthalts.
Zeichnen ist für mich wie Atmen. Es ist mein Leben, ich muss zeichnen. Ich weiß nicht warum, ich denke auch nicht viel darüber nach. Ich mag es einfach und ich hoffe, dass ich eines Tages zeichnend sterbe. Ich kann auch gar nichts anderes. - José Antonio Suárez Londoño
Immer im Januar Selbstbildnisse
Suárez Londoño zeichnet systematisch. Er hat seine Zeit in wöchentliche, monatliche und jährliche Strukturen eingeteilt. An jedem 19. des Monats etwa zeichnet er ein Porträt von Edgar Degas, den er für den besten Zeichner von allen hält und seinen „Gott“ nennt. Jeden Freitag trifft er sich in seinem Wohnort Medellín mit anderen Zeichnern und man porträtiert sich gegenseitig. Über die Dauer eines Jahres hinweg illustriert Suárez Londoño ein Buch: Die Tagebücher von Brian Eno, Paul Klee oder Rainer Maria Rilke etwa, Gedichtbände von Patti Smith oder Arthur Rimbaud. Jeweils die ersten 12 Tage des Januars wiederum fertigt er – basierend auf einem alten kolumbianischen Aberglauben – Selbstbildnisse an.
Die kolumbianischen Bauern haben eine Tradition der Wettervorhersage. Wenn es am ersten Januar regnet, wird es den ganzen Januar regnen. Wenn am 2. Januar die Sonne scheint, wird der Februar schön. Wenn es am 3. Januar wiederregnet, wird der März regnerisch. Also die ersten 12 Tage sind eine Wettervorhersage für das ganze Jahr. Also zeichne ich mich die ersten 12 Tage im Januar weil das heißt, dass ich dann das ganze Jahr über zeichnen werde. - José Antonio Suárez Londoño
Rilke-Zitat "Wer spricht vom Siegen?"
Die Blätter kleiner Abrisskalender mit ihren Weisheiten prominenter Geistesgrößen klebt der Künstler in sein Notizbuch und setzt eine Zeichnung daneben. Da ist etwa ein nackter Mann, der eine Treppe hinaufhastet. Der Kalenderspruch dazu stammt von Rilke: „Wer spricht vom Siegen? Überstehen ist alles!“ Gleich daneben ein Zitat von Camus: „Es gibt keine Wahrheit, die nicht ihre eigene Bitterkeit mit sich trägt“. Die Zeichnung zeigt eine Frau, deren Beine von Mauern umgeben sind. Sie steht wie in einem Schornstein oder Brunnen. Aus ihrem Schoß sprießen Ölbaumzweige.
Welt und ihre Linien
Über die rund 40 Jahre seines Schaffens sind so 65 Notizbücher mit etwa 5000 Zeichnungen entstanden. Subjektiv, privat und vor allem: fragmentarisch. Für Außenstehende sind die Motive oft berührend, manchmal witzig, manchmal absurd, aber in gewisser Weise auch – und das ist keine Kritik! – egal. Was wir sehen ist vielmehr die beispielhafte Aneignung von Welt mittels Linien.