Die Münchner Gynäkologin Eiman Tahir sieht in ihrer Praxis eine steigende Zahl an Patientinnen. "Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht eine Frau behandle, die von Genitalverstümmelung betroffen ist. Ich sehe Zwölfjährige, die beschnitten sind. Die Familien stammen aus Somalia, Sudan oder Eritrea, aus Burkina Faso oder Nigeria." Neunzig Prozent der Patientinnen haben Migrationshintergrund. "Etwa ein Drittel davon ist von Genitalverstümmelung betroffen."
"Eine gynäkologische Untersuchung ist eine Qual"
Die aus dem Sudan stammende Eiman Tahir will für all die Frauen da sein, die Hilfe suchen. Eine Mission, die sie von klein auf verspürt. Schon die Großmutter war Hebamme, das prägte früh ihren Berufswunsch. "Es war wirklich ganz früh, dass ich gesagt habe: Ich möchte Ärztin werden. Und ich bin dann diesem Traum wirklich bis ans Ende der Welt gefolgt." Durch Zufall bekommt sie ausgerechnet in Deutschland einen Studienplatz. Die Probleme aus der Heimat holen sie aber auch hier ein.
Vor allem Migrantinnen kommen in die Praxis – oft mit schwerem Schicksal. Durch den Zuzug aus Ländern wie Somalia oder Eritrea gibt es auch in Deutschland immer mehr beschnittene Frauen. Für sie ist schon allein die gynäkologische Untersuchung eine Qual. "Ich sehe ja, wie viel Angst und wie viel Trauma in den Augen ist. Ich bin dann auch ganz behutsam und sage: Ich möchte nicht wehtun, ich möchte nur schauen, weil ich helfen will."
Eine Patientin ist aus Somalia geflüchtet und hat ihr unter Tränen erzählt, was ihr als Mädchen in der Heimat angetan wurde. "Die haben dann die Beine auseinandergenommen und haben dann geschnitten mit dem Messer. Und sie hat geweint und hat zur Mutter gesagt 'hilf mir', aber keiner hat geholfen."
Nur Aufklärung bringt Umdenken
Eiman Tahir weiß um viele solcher Geschichten, die sie immer noch fassungslos machen. "Stellen Sie sich vor als kleines Kind, ohne Narkose die Schamlippen zu entfernen, zu schneiden. Diese älteren Dorffrauen, die das machen, die kaum sehen, und keine anatomischen Kenntnisse haben. Das ist wirklich wie Umbringen für die Mädchen."
Die Beschneidung, die im Heimatland passiert, quält viele ein Leben lang. Eiman Tahir hat ihre Doktorarbeit darüber geschrieben. Infektionen, lebenslange Schmerzen und seelische Wunden sind die Folgen der Beschneidung. "Viele haben nicht das Wissen, dass viele von ihren Beschwerden im Zusammenhang mit der Beschneidung stehen. Das versuche ich den Frauen zu erklären. Und ich thematisiere das auch, wenn ich Ultraschall mache: die Frau ist schwanger, und ich sehe das wird ein Mädchen und ich weiß, dass die Frau selber beschnitten ist. Dann sage ich: Ja, und dein Mädchen beschneidest Du aber nicht!" Zumindest die Töchter kann Eiman Tahir vielleicht retten.
Das deutsche Gesundheitssystem kommt an seine Grenzen
Die Versorgung der Patientinnen ist nicht mit einem Besuch bei der Gynäkologin beendet. Zwischen 800 und 900 Patienten kommen mehrmals im Quartal. Zusätzliche Kosten, die die Krankenkassen nicht übernehmen. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern forderte vergangenen Dezember über 130.000 Euro von der Ärztin zurück, erzählt sie.
Ihre Abrechnungen würden nicht dem Durchschnitt entsprechen. Neben der Rückforderung wurde Eiman Tahir auch zu einer Geldstrafe verurteilt. Dank einer groß angelegten Spendenaktion konnte sie inzwischen beide Beträge begleichen.
75.000 Frauen mit Genitalverstümmelung in Deutschland
In Deutschland leben rund 75.000 Frauen mit Genitalverstümmelung, dreimal so viele wie noch vor zwanzig Jahren. Immer mehr betroffene Frauen kommen als Flüchtlinge. Für deutsche Ärzte kann so ein Anblick schockierend sein. "Mein Appell ist wirklich an das medizinische Personal, seien es Ärzte, Hebammen, Krankenschwestern, dass sie die Frauen nicht zur Schau stellen, nicht die Frauen wie ein Versuchskaninchen behandeln. Dass sie genauso medizinische Hilfe brauchen und genauso behandelt werden sollen, wie alle andere Patientinnen auch."
Und darum hört Eiman Tahir nicht auf, um mehr Menschlichkeit zu kämpfen. "Was ich jeden Tag an Lebensgeschichten höre, da denke ich manchmal, das kann ich so nicht weitermachen. Gleichzeitig sage ich, ich kann nix anderes, ich kann nur das tun, dass ich einfach für die Frauen da bin."
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
Mehr zum Thema "Solidarität mit Frauen im Iran und weltweit" in der Sendung STATIONEN am Weltfrauentag am Mittwoch, 8. März 2023 um 19 Uhr im BR Fernsehen und in der ARD Mediathek.