Paris, Frühling. Ein kleines Hotel direkt im Schatten der gotischen Kirche Saint-Sulpice. Straßenlärm dringt durch die Schiebetür. Der Portier tackert an seiner Buchhaltung. Diesen unscheinbaren, etwas versteckten Ort hat die Autorin für das Interview vorgeschlagen.
Weltstar-Getue? Nö. Sofaecke!
Jetzt sitzt sie hier, in der kleinen, nicht uncharmanten Sofaecke der Lobby: Schwarzes, leicht gelocktes Haar, kluge Augen, ein sehr einnehmendes Lächeln – die meistgespielte Dramatikerin der Welt. Yasmina Reza ist eine Künstlerin von Weltrang, die auf Weltstar-Getue aber genauso wenig Wert legt wie auf eine blinde Überhöhung von Kultur:
"Ich glaube überhaupt nicht an die tröstende Kraft der Kultur", sagt Reza, "aber ich glaube an die tröstende Kraft bestimmter Kunstwerke. Das Verschlingen von Kultur, das Besuchen von Ausstellungen, Filmen, Lesen halte ich nicht für tröstlich. Aber bestimmte Werke rühren wirklich an und dank des Spiegeleffekts spenden sie eine Form des Trostes."
Die Welt sehen, wie sie ist – und dann trotzdem lachen. Das ist die Form von Trost, die in Rezas Werken zu finden ist. Berühmt ist die französische Autorin vor allem für ihre präzise zugespitzten Gesellschaftskomödien, in denen ein oft bürgerlich-kultiviertes Personal allzu schnell die Façon verliert. Etwa in "Der Gott des Gemetzels". Darin wollen zwei Ehepaare den Schulhofstreit ihrer Söhne schlichten. Wenige Höflichkeiten später führen die vernünftigen Eltern selbst einen erbitterten Krieg im Wohnzimmer.
"Alles ist lächerlich. Da lasse ich keine Gelegenheit aus, um zu lachen."
In Rezas Roman "Babylon" gereicht ein Disput über ein Biohuhn zum Auslöser für einen Mord. Rezas Stücke sezieren das Tieftragische, das allen menschlichen Beziehungen eigen ist, mit viel Humor und einer großen Lust daran, dieser Tragik nicht das letzte Wort zu überlassen.
"Es gibt eine Verpflichtung zur Leichtigkeit", sagt sie. "Das heißt, der Humor hat die Funktion, das Tragische leichter zu machen, es nicht zu ernst zu nehmen. Und das liegt mir mehr als das Tragische. Wir sind ja nur für eine sehr kurze Zeit hier. Alles ist lächerlich. Da lasse ich keine Gelegenheit aus, um zu lachen."
An der Grenze zwischen Tragik und Komik spielt auch Rezas neues Stück "James Brown trägt Lockenwickler". Es feiert nun seine Weltpremiere am Münchner Residenztheater. Das Stück erzählt von dem Teenager Jacob, der sich für die Sängerin Céline Dion hält. Um ihn vom Gegenteil zu überzeugen, stecken ihn seine Eltern in eine psychiatrische Anstalt. Hier freundet sich Jacob mit Philippe an, einem weißen Franzosen, der fest davon überzeugt ist, ein Schwarzer aus den Staaten zu sein. "James Brown trug Lockenwickler" beginnt wie ein beißender Kommentar zu den aktuellen Debatten über Identitätspolitik, ist es dann aber ganz und gar nicht:
"Ich frage nicht, wer hier normal ist oder wer nicht?", sagt Reza im BR24-Gespräch, "sondern ich frage, wo alle etwas unwirklich oder zwischen normal und normal zu sein scheinen – was bleibt da übrig? Was bleibt vom Menschen, all die Identitäten, der Identitätswahn abgezogen? Was bleibt? Es bleibt die Geschichte von Eltern und ihrem Kind. 'Meine Eltern haben mich zurückgewiesen. Sie kommen nicht zu mir.' Das gefällt mir sehr gut, denn es legt einen harten menschlichen Kern frei, der gleichbleibt und der für jeden erkennbar ist."
Der Mensch: Ein Tier, das sich dauernd Fragen stellt
Wer bin ich? Wer soll ich sein? Welche Rolle spielen die eigenen Wurzeln, das Milieu, die Normen, die Moral? Der Mensch bei Reza ist ein Tier, das sich solche Fragen stellt – dummerweise. Denn befriedigende Antworten darauf gibt es keine. "James Brown trug Lockenwickler" ist kryptischer, skurriler als Rezas bisherige Werke. Und doch ein sehr zärtlicher Appell an die kurze Möglichkeit des Glücks, das sich mitunter in den noch wahnwitzigsten zwischenmenschlichen Situationen erleben lässt, wenn man nur ablässt vom Fetischisieren der eigenen Identität.
"Ein Scheiterhaufen der Eitelkeiten. Mehr ist es nicht. Man kann sich unmöglich zu wichtig nehmen, wenn man das weiß." Sagt Reza. Erhebt sich, setzt ihre Sonnenbrille auf, geht vorüber am tackernden Portier – und verschwindet in den Gassen von Paris.
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