Was war die Aufregung groß, als sich im Sommer ein Würzburger Stadtfest weigerte, den Partysong "Layla" auf die Playlist zu nehmen – den deutschen Sommerhit des Jahres. Zu sexistisch und niveaulos schien den Veranstaltern der Text. Das angebliche Songverbot (das keines war) schlug riesige Wellen. Nicht wenige Retter der Kunstfreiheit traten auf den Plan, um die sogenannte "Cancel Culture" zu bekämpfen. Nun kann man sich allerdings fragen, wie weit es mit diesem Phänomen überhaupt her ist: Gespenst oder nur (Hirn-)Gespinst?
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"Layla" landet auf dem ersten Platz der Single-Charts
Im Fall "Layla" ist die Sache jetzt zumindest klar. Zu behaupten, der meistgehörte Song des Jahres sei gecancelt worden, wäre lächerlich. Denn genau das ist "Layla" – wie GfK Entertainment am Freitag in Baden-Baden bekanntgab. In den Offiziellen Deutschen Singlecharts für das Jahr 2022 besetzt das Sauflied den ersten Platz. Große Freude bei den Machern DJ Robin & Schürze, die mitteilen ließen, sie verneigten sich "in Demut vor all den Partyschlager-Verrückten", die ihrem Song diesen Erfolg beschert hätten.
Gefolgt wird "Layla" von den "Heat Waves" der britischen Indie-Popper Glass Animals. Offenbar ein Late Bloomer. Obwohl schon 2020 veröffentlicht, hat sich der Song erst jetzt bei den Hörerinnen und Hörern durchgesetzt. Den Bronzeplatz ergattert dann wieder eine aktuellere Nummer: "Beautiful Girl" vom Berliner Rapper Luciano.
Rammstein dominieren die Album-Charts
Zumindest auf Spotify hat sich der Rap ja längst gegen den Pop durchgesetzt. Bei den Ende November veröffentlichten Albumcharts der Streamingplattform waren unter den Top 5 gleich drei Deutschrap-Nummern. Luciano mit seinem Album "Majestic" sogar auf der Eins. In den Albumcharts der GfK, die Streamings, Downloads und den Kauf physischer Tonträger zusammenrechnet, entsteht dagegen ein anderes Bild.
Dort besetzen drei alte Bekannte das Treppchen. Die schwedischen Schlagerpopper ABBA landen mit "Voyage" – dem Album des Jahres 2021 – immer noch auf dem dritten Platz. Schlagerkönigin Helene Fischer, die 2017 und 2018 jeweils den ersten Platz machte, erreicht mit ihrem neuen Album "Rausch" den Silberrang. Und über die Pole Position dürfen sich, wie zuletzt im Jahr 2019, die Brachialrocker von Rammstein freuen – und zwar mit ihrem aktuellen Album "Zeit". Schon eine ironische Pointe. Immerhin besingen Rammstein dort so eindeutig wie nie zuvor ihr Unbehagen mit der Gesellschaft.
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Und wo bleibt Talyor Swift?
Ein bisschen bemerkenswert: Taylor Swift ist ganz oben nicht zu finden. Dabei hatte sie mit "Midnights" noch im Herbst sämtliche Streaming-Rekorde gebrochen. Als erster Künstlerin überhaupt gelang es der 32-Jährigen damals mit den Songs ihres neuen Albums alle zehn Plätze der US-amerikanischen Billboard-Charts zu besetzen, womit sie sogar Rapper Drake übertrumpfte, der es schon mal auf neun gebracht hatte. Und auch auf Spotify dominierte der Popstar das Geschehen. Nie wurde eine andere Künstlerin an einem einzigen Tag mehr gehört als sie. Und nie ein anderes Album. Den deutschen Markt scheint das indes wenig zu jucken. In den Top 10 der Singlecharts ist Swift gar nicht erst vertreten. Und in den Albumcharts landet sie "nur" auf dem vierten Platz.
Genauso wenig dürfte das freilich Taylor Swift selbst jucken. Und wenn doch – dann kann sie ja mal beim alternden Schlagerbarden Roland Kaiser reinhören, der mit seinem Album "Perspektiven" den neunten Rang besetzt. Und darauf die Lyrik der Beschwichtigung zelebriert: "Es ist alles okay, was im Leben passiert …" Na also.
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