Die Polizei kam gegen Mitternacht. In einem Bowling-Club in St. Petersburg wurde ein Geburtstag gefeiert. Die Gruppenmitglieder hatten sich Blumenketten um den Hals gehängt, um den Jubilar im "hawaiianischen Stil" hochleben zu lassen. Doch ein Augenzeuge hielt das für "Propaganda für nicht-traditionelle Lebensweisen" und verständigte die Sicherheitsbehörden. Nach einer Befragung klärte sich Situation, die Uniformierten rückten ab und die offenkundig heterosexuellen Gäste konnten weiter zechen und bowlen.
Ein unauffälliger Lebensmittelladen musste sich rechtfertigen, weil er seit Jahren mit einem Logo warb, das einen Regenbogen zeigte, unter dem ein Handschlag abgebildet war. Passanten schöpften "Verdacht". Flugs wurde das Logo abgenommen und gegen eine "braune Raute mit Initialen" ausgetauscht, was in diesem Fall wohl keine Satire sein sollte.
Ein eigentlich unverdächtiges Event in St. Petersburg, das sich bisher "Regenbogen-Festival" nannte, änderte seinen Namen in "Festival für junge Zuschauer". Die Begründung von Organisatorin Swetlana Lawretsowa: "Wir wollen nicht wie diejenigen aussehen, die LGBT-Menschen fördern, also haben wir uns mit unserem Team zusammengesetzt und entschieden, ob wir den Namen endgültig oder vorübergehend ändern. Einerseits beobachten wir, wie wahnsinnig es in der uns umgebenden Realität zugeht. Andererseits war das unser Markenzeichen."
"Scheint mir absolut sicher zu sein"
Selbst die Oper "Der Fliegende Holländer" von Richard Wagner ist nicht mehr über jeden Verdacht erhaben. Opernintendant Anton Getman sagte in einem Interview auf die Frage nach einer aktuellen Inszenierung im sibirischen Perm, er habe "dort nichts gefunden, was mich verwirrt hätte". Die Musik bleibe unverändert: "Was wir gehört und was uns gezeigt wurde, scheint mir vom Standpunkt der geltenden Gesetze absolut sicher zu sein."
Die russischen Medien sind inzwischen voll von derart grotesken Meldungen über die Auswirkungen eines neuen Gesetzes, mit dem das Putin-Regime offen gelebte Homosexualität bekämpfen will. Rechtsextreme und nationalistische Kreise hatten darauf gedrängt. Auf die Verbreitung staatlich unerwünschter "Propaganda" für Homosexualität stehen seitdem Höchststrafen von umgerechnet rund 5.200 Euro für Privatleute und rund 70.000 Euro für Institutionen wie Verlage oder Filmstudios.
Verdächtige Tauben auf der Brücke
In Omsk zeigte sich der dortige Bürgermeister Sergej Schelest alarmiert, weil sich auf dem Geländer einer Straßenbrücke Plastiktauben in Regenbogenfarben fanden: "Mich verwirrt das Farbschema der Vögel. Es deutet definitiv in Richtung LGBT. Wenn diese Tauben in einem solchen Farbschema aufgestellt bleiben, verspreche ich ihnen hundertprozentig, dass sie in naher Zukunft vernichtet werden. Ich möchte kein Bürgermeister sein, der LGBT-Menschen fördert." Die Künstlerin hatte dagegen beteuert, ihre bunten Vögel stünden für "Heiterkeit und Leichtigkeit".
Andere Kommunalpolitiker hatten sich aufgeregt, weil auf Regenbogenflaggen auch die Farbe blau vorkommt, die doch der Tradition zufolge ausschließlich der Muttergottes vorbehalten sein müsse.
"Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit"
Nach einer Denunziation bekam jetzt die berühmte Tretjakow-Galerie in Moskau Post vom Kulturministerium. Die Museumschefin soll den Behörden erläutern, ob sie "die traditionellen russischen geistigen und moralischen Werte zu bewahren und zu stärken" weiß. Ein Ausstellungsbesucher hatte sich nach seinem Aufenthalt entsetzt gezeigt über "tiefen Pessimismus, ein Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit". Er regte sich darüber auf, dass er auf einem 13-teiligen Bilderzyklus zum Letzten Abendmahl nicht erkennen könne, wer Judas sei. Außerdem empörte er sich über eine kopflose Madonna, "zu viele Begräbnisszenen" und die Darstellung von Alkoholismus. Auch "Randgruppen" werde zu viel Raum geschenkt.
"Wir haben es mit einem typisch sowjetischen Umgang mit anstößiger Kunst zu tun, durch einen angeblichen Brief des Volkes, der offiziell in Umlauf gebracht wird", so ein Tretjakow-Mitarbeiter gegenüber der "Moscow Times". Er fühlte sich an berüchtigte Ausstellungsrundgänge von Stalin und Chruschtschow erinnert.
Dagegen finanzierte der Kreml eine Website, auf der patriotisches Liedgut zur Stärkung der Moral präsentiert wird, mit rund 225.000 Euro.
"Verzerrte Darstellung von Gleichwertigkeit"
Die zuständige Behörde hatten den Russen einen Katalog zur Hand gegeben, woran sie "Propaganda für nicht-traditionelle Werte" erkennen könnten. So sei eine "verzerrte Darstellung der Gleichwertigkeit traditioneller und nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" verdächtig, auch "Informationen, die das Interesse an nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen wecken und dazu beitragen" könnten, "negative Einstellungen in positive umzuwandeln". Beispiele von "sozialer (oder sonstiger) Zustimmung zu Menschen, die ihr natürliches Geschlecht verleugnen" seien ebenfalls strafbar.
"Dem Markt wird nichts Schlimmes passieren"
Einer der größten Bestseller in Russland war mit rund 200.000 verkauften Exemplaren die homosexuelle Lovestory "Sommer in Pionier-Krawatte". Jetzt wird der Verlag Popcorn Books dafür belangt. Der rechtsextreme Oligarch und Medienzar Konstantin Malofejew sprach von "perverser Abscheulichkeit" und drohte: "Beim Studium der Aktivitäten dieses Verlags haben unsere Experten eine ganze Reihe von Büchern identifiziert, die Sodomie und gleichgeschlechtliche 'Familien' fördern. Die zuständigen Behörden sollten diese Angelegenheit ernst nehmen und sich nicht auf Popcorn Books beschränken. Der Verlag ist nur die Spitze des Eisbergs des globalen Sodoms, das in unserem Land tätig ist." Dieses "Sodom" müsse nicht nur "vernichtet", sondern "entwurzelt" werden.
Auf die Klage von Verlegern, ohne Titel mit einem Bezug zu "nicht-traditionellen Lebensweisen" werde der Buchmarkt zusammenbrechen, sagte der kremlnahe Politologe Roman Antonowski: "Bücher mit LGBT-Propaganda sind nicht die einzige Einnahmequelle, der Buchmarkt kann durchaus auf die Veröffentlichung solcher Literatur verzichten. Wenn Sie den Profit in den Vordergrund stellen, müssen Sie schließlich auch Drogen und den Handel mit menschlichen Organen legalisieren. Dem Markt wird nichts Schlimmes passieren – er wird sich einfach von selbst wieder aufbauen."
Patriarch Kyrill, der Chef der russisch-orthodoxen Kirche, rühmte das neue Gesetz mit den Worten, Russland sei jetzt "eine Insel der Freiheit und des spirituellen Widerstands gegen Gotteslästerung und die Abschaffung der Moral in der Welt". Von Kritik aus dem Westen zeigte sich der Kirchenmann wenig beeindruckt: "Wir halten jene Werte hoch, die die menschliche Freiheit gewährleisten."
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