Armeechef Waleri Gerassimow (ganz links) und Verteidigungsminister Sergej Schoigu (zweiter von rechts)
Bildrechte: Mikhail Metzel/Picture Alliance

Russlands Militärführung bei einer Feierstunde am 8. Dezember 2022

    "In Russland gibt keiner Fehler zu": Putins Probleme mit Kritik

    Immer skurrilere Details über den Zustand der Truppe werden von russischen Bloggern verbreitet. Sie unterscheiden zwischen "konstruktiver" und "hysterischer" Kritik. Hauptproblem der Soldaten sei "Todesangst", vor Chefs Schwierigkeiten einzuräumen.

    Der Kreml scheint trotz aller Zensurmaßnahmen immer noch die "Destabilisierung" des Landes zu befürchten. Die zuständigen Behörden erklärten jedenfalls mehrere viel gelesene russische Auslandsportale zu "unerwünschten" Medien und verboten inländischen Journalisten, für diese tätig zu sein. Außerdem wurden die Websites von CIA und FBI wegen "ungenauer Informationen" gesperrt. Dabei verstärkt sich in Russland selbst der Eindruck, dass Putin neben einem militärischen auch ein folgenreiches kulturelles Problem hat, nämlich die völlig fehlende Diskussionsbereitschaft in den höheren Rängen seiner Truppe. Jedwede kritische Äußerung kann als "Diskreditierung der Armee" gemaßregelt werden.

    Nur die "Ultrapatrioten" und Rechtsextremisten untereinander haben eine Art Narrenfreiheit und dürfen sich beharken. Sie laden sich jeweils gegenseitig an die Front ein, werfen einander früheres militärisches Versagen vor und beschimpfen die Armeechefs wegen angeblich erwiesener Unfähigkeit. Auch wortreiches Jammern über fehlende Ausrüstung ist dort offenkundig gestattet, und sei es, um private Spender zu akquirieren. Die sehr vorsichtig kremlkritische "Nesawissimaja Gazeta" seufzte kürzlich in einem Leitartikel, politische Debatten seien in Russland überhaupt nur noch "Patrioten" erlaubt, definiert als Personen, die den Krieg unterstützen und die "Werte" des Kreml teilen.

    Es gebe "keine nicht-systemische Opposition" mehr: "Ihre Führer sind entweder im Exil oder im Gefängnis oder als ausländische Agenten gebrandmarkt". In den "fortgeschrittenen westlichen Demokratien" dagegen sei von einer "einstimmigen Unterstützung der Regierung keine Rede", dort werde Kritik nicht aus "Gefängnissen und Kerkern" geäußert. Damit brachte das Blatt den Unterschied zwischen offenen Gesellschaften und autoritären Regimen höflich, aber deutlich auf den Punkt.

    "Es ist ein komplettes Durcheinander"

    Angeblich drängt Putin seine Armeechefs zu einer "Offensive" im Frühjahr, so das amerikanische News-Portal Bloomberg in Übereinstimmung mit gewöhnlich gut informierten russischen Telegram-Bloggern. Dabei soll es dem russischen Präsidenten weniger um militärische als um politische Erfolge gehen: Er will diesen Informationen zufolge beweisen, dass seine Truppe noch in der Lage ist, das Geschehen zu bestimmen und damit die Ukraine zu einem Einlenken in seinem Sinne bewegen. Doch ob das realistisch ist, darüber gehen die Meinungen sehr auseinander, wie Exilmedien melden.

    Aus den von den Russen besetzten Gebieten in der Ukraine heißt es, dort kaufe die Truppe mehr oder weniger taugliche private Fahrzeuge auf, obwohl die Generalität genau das ausdrücklich verboten hatte: "Es ist ein komplettes Durcheinander hier. Wir glauben, dass es im Falle eines Abzugs kein zentral organisiertes Abrücken geben wird. Viele Leute betteln herum und kaufen Autos, nur um schnell hier rauszukommen." An den jüngsten Meldungen, wonach die Russen an einigen Stellen der Front in der Offensive sind, ist nach Meinung des britischen Geheimdiensts nicht viel dran, das seien nur "Sondierungsoperationen". Russische Blogger bestätigten das insofern, als sie über den "langsamen Vormarsch" klagten.

    "Es wird alles vertuscht"

    Anders als staatlich reglementierte Medien berichten sie ungestraft über "Idiotie" in der Armee und nennen zahlreiche bizarre Beispiele für die Arroganz von Kommandeuren und massive Ausrüstungsmängel. So wird ein Soldat zitiert, der über seinen Vorgesetzten sagt: "Er quatscht ständig betrunken ins Funkgerät, schickt irgendjemanden herum, flucht obszön und droht, jemanden zu erschießen. Vom ersten Tag an, als wir ankamen, drohte er, uns zu liquidieren." Inzwischen habe sich der Kommandant mit einer "Leibwache" umgeben, aus Angst, die eigenen Untergebenen würden ihn hinrichten. Renitente Soldaten würden in Erdlöcher gesperrt und tagelang dem Frost ausgesetzt, Betrunkene würden sogar mit Maschinengewehren herumballern und hätten auch Kameraden getötet: "Es wird alles vertuscht."

    Auf dem Telegram-Kanal "Rybar" mit über einer Million Followern ist unter der Überschrift "Kommandeure spielen Krieg" von Dummheit, Bürokratie und Chaos die Rede: "Leider gibt es im Moment keine Voraussetzungen für eine deutliche Verbesserung der Situation." In Geheimdienst-Einheiten seien Mitarbeiter damit beschäftigt, Stifte in der farblichen Reihenfolge zu ordnen, die der Chef vorgebe. Andere druckten stundenlang Etiketten aus oder überprüften die Verfallsdaten von Konserven.

    "Extravaganz von Chefs"

    Vor lauter Bürokratie bleibe keine Zeit für die militärische Ausbildung, so "Rybar". Und auch die Beschaffung von Informationen über den Gegner erfolge ausgesprochen "lahm": "Je weiter von der Front entfernt, desto mehr Personal, desto mehr nutzlose Kontrolle der Vorkehrungen zum Schutz von Staatsgeheimnissen, die nur von der eigentlichen beruflichen Tätigkeit abhält, desto mehr Extravaganz von Chefs und Kommandanten. Und je länger der Spezialeinsatz andauert, desto mehr kommen in den relativ frontnahen [Geheimdienst-]Einheiten trübe Gedanken auf."

    Ein bekannter Blogger verteidigte seine wiederholte Kritik am Zustand der russischen Armee mit den Worten: "Grob gesagt gibt es konstruktive Kritik, die argumentiert und Vorschläge macht, und es gibt hysterische Kritik um des Hypes willen. So kam es, dass unser Militärsystem viele Jahre lang so aufgebaut war, dass Untergebene mehr Angst hatten, Probleme an höhere Stellen weiter zu melden, als vor dem Tod. Mit seltenen Ausnahmen wurden die wirklichen Probleme in ihren Berichten nicht angesprochen und die positiven Ergebnisse übertrieben."

    Konkret wurde der Mangel an Drohnen, Nachtsichtgeräten, Wärmebildkameras und Fahrzeugen genannt. Der von westlichen Beobachtern festgestellte Mangel an Munition auf russischer Seite, den auch fronterfahrene Blogger täglich beklagen, wird von der Propaganda als "Gerede" abgetan, tatsächlich sei die Produktion "um mehrere Größenordnungen" gestiegen.

    "Kämpfer demoralisiert, wenn Probleme ignoriert werden"

    Wichtig sei vor allem, bei Kritik eine gewisse Grenze nicht zu überschreiten, so der zitierte Blog: "Es wird Leute geben, die sagen, dass Berichterstattung über Probleme und Fehler unsere Kämpfer demoralisiert, was im Grunde nicht stimmt. Unsere Kämpfer leben und kämpfen unter diesen Bedingungen und mit diesen Problemen. Sie sind demoralisiert, wenn Probleme ignoriert werden. Und wenn unsere Kämpfer sehen, dass ihre Probleme öffentlich diskutiert werden, inspiriert sie das ganz im Gegenteil, denn es gibt ihnen das Gefühl und die Hoffnung, dass, wenn das Problem besprochen wird, es früher oder später auch gelöst wird." Zahlreiche Blogger teilten diesen Kommentar und meinten, dem sei "nichts hinzufügen".

    Ein gewöhnlich kenntnisreicher Telegram-Diskutant will erfahren haben, dass Putin kürzlich deprimierende Gesprächsprotokolle zwischen der Armeeführung und Fronteinheiten überreicht worden seien, um ihm die Augen zu öffnen über die wahren Verhältnisse bei Personal und Ausrüstung. Die Generäle glaubten schon lange nicht mehr an einen "Sieg" und fürchteten auch nicht, dass ein Fehlschlag in der Ukraine größere Auswirkungen auf russische Territorien hätte. Anders als Putin hielten sie den Kriegsausgang also nicht für "existentiell", trauten sich aber nicht, das ungeschützt zu sagen.

    "Hat nichts mit der Realität zu tun"

    "In Russland wird keiner der Verantwortlichen jemals seine Fehler zugeben. Das bedeutet jedoch nicht, dass Untergebene sie nicht sehen", heißt es in einer umfassenden Analyse der im Ausland erscheinenden "Novaya Gazeta Europe" über die Strategie von Oberbefehlshaber Waleri Gerassimow. Demnach hat Putins Truppe vor allem Probleme mit der rückwärtigen Kommunikation und der Verwaltung von besetzten Gebieten. Das sei schon beim Eingreifen in Syrien schwierig gewesen. Unter Gerassimow, der den Spitzennamen "General Mumu" habe, gehe es drunter und drüber: "Alles ist schön – es hat nur nichts mit der Realität zu tun." Der General sei eben ein "echter Ideologe" im Sinne des Kreml.

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