Trostlektüre haben russische Kreml-Fans derzeit wirklich nötig, heißt es in den einschlägigen Telegram-Kanälen doch übereinstimmend, die Lage an den heiß umkämpften Frontabschnitten sei "schwierig", über "Erfolge" brauche man "nicht zu reden". Es gebe leider nicht mehr genug Munition "für alle". Viele Generäle seien "faul und ignorant": "Ich verstehe, dass Verschwörungstheoretiker mit dieser Erklärung unzufrieden sein werden, aber das scheint mir die vernünftigste zu sein", so der in den russischen Medien viel gefragte Blogger Vladlen Tatarski. Es sei schlimm, dass der tägliche Vorrat an Geschossen drastisch verringert werden musste, so der ebenfalls sehr präsente Alexander Chodakowski, aber wirklich deprimierend sei es, dass diese Menge nicht mehr ausreiche, um das "gewünschte Ergebnis" zu erzielen, also voranzukommen.
"Wir haben es nicht eilig"
Wie desolat der Zustand von Putins Truppe ist, bestätigte indirekt Politologe Sergej Markow. Er versuchte, seinen bangenden Fans mit einem Hinweis auf die russische Kriegsgeschichte Mut einzuflößen. Demnach gebe es noch gar keine "Offensive", sondern einstweilen nur eine "aktive Verteidigung", die mit der Panzerschlacht von Kursk im Juli 1943 vergleichbar sei. Damals erzwang die Rote Armee den Abbruch einer groß angelegten deutschen Offensive und verbesserte damit nachfolgend ihre eigenen Aussichten auf den Vormarsch. So ähnlich sei es jetzt an manchen Frontabschnitten: "Wir haben es nicht eilig."
"Russland wird in Stücke gerissen"
Andere Blogger warnten zwar davor, die Russen müssten sich hüten, nicht "in die Falle der eigenen Propaganda" zu gehen, beruhigten ihre Leser allerdings gleichzeitig, die "aktive Verteidigung" laufe doch "nicht schlecht" und garantiere doch immerhin "einen kleinen Vorteil". Manchmal leisten sich Putins Blogger unfreiwillige Komik, so der prominente Kriegsberichterstatter Alexander Kots, der schrieb: "Wir müssen verhandeln." Damit meinte er aber nicht etwa die Ukraine, sondern das russische Verteidigungsministerium, das sich endlich mit der Söldnertruppe "Wagner" an einen Tisch setzen solle.
Es fällt auf, dass sogar die rabiatesten Wortführer des Putin-Regimes inzwischen häufiger den Begriff "Niederlage" verwenden, um ihren Landsleuten Angst zu machen. So schrieb der Ex-Präsident und stellvertretende Chef des Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew: "Wenn Russland die Spezialoperation stoppt, ohne einen Sieg zu erringen, wird Russland nicht weiter existieren, es wird in Stücke gerissen."
"Konsolidierung der russischen Gesellschaft"
Ob solche "Motivationsversuche" verfangen, sei dahingestellt. Ausweislich aktueller Umfragen russischer Soziologen soll Putins Kernwählerschaft jedenfalls nicht wanken. Wie fragwürdig Meinungsforschung in autoritär regierten Staaten auch immer sein mag, auch russische Exil-Medien verweisen auf ein überraschend stabiles Meinungsklima. Das US-Nachrichtenportal Bloomberg will aus kremlnahen Quellen erfahren haben, dass vertrauliche Erhebungen sogar eine "wachsende Zustimmung" zu Putin ergeben hätten. 75 Prozent der Befragten sollen den Krieg aktuell unterstützen.
Denis Wolkow vom Institut Levada sprach von einer "Konsolidierung" der russischen Gesellschaft, wobei die "Stabilisierung des Finanzsystems" ein wichtiger Aspekt gewesen sei. Selbst der wachsende Druck auf Andersdenkende, die gemeinhin als "Verräter" bezeichnet werden, finde überwiegend Zustimmung. Sogar Leute, die in früheren Jahren gegen die Behörden protestiert hätten, seien jetzt der Ansicht, die NATO sei am Krieg schuld. Es gebe allerdings auch "Ermüdungserscheinungen". Der große Rückhalt für Putin sei nur "unter Bedingungen möglich, unter denen die Mehrheit der Menschen nicht an Schlachten teilnehmen" müsse.
"78 Prozent halten Putin für aufrichtig"
Die große Zahl von Befürwortern von Verhandlungen deute darauf hin, dass es mit dem "Enthusiasmus" letztlich doch nicht sonderlich gut bestellt sei. Der Gedanke an eine Niederlage könne jedenfalls auch für all diejenigen "lähmend" sein, die von Anfang gegen den Angriff auf die Ukraine gewesen seien. Was dabei auch keine geringe Rolle spielen dürfte: Hunderttausende von russischen Putin-Gegnern und Dissidenten haben längst das Land verlassen.
Zivilcourage ist selten geworden: So verteidigte der Musikproduzent Iosif Prigoschin (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Söldnerchef) völlig überraschend die in Russland überaus bekannte 84-jährige Schauspielerin und Kriegsgegnerin Leah Achedschakowa, die wegen ihrer politischen Einstellung alle ihre Rollen am "Zeitgenössischen Theater" in Moskau verloren hatte, mit dem Satz: "Es sollte alternative Meinungen geben, gesunde Kritik. Wir müssen streiten, nach Lösungen suchen. Wenn es keine Kritik gibt, werden wir verrückt." Künstler müssten keineswegs immer an ihrer privaten Meinung gemessen werden, es reiche ihr öffentliches "Gesicht".
In der regierungsnahen "Iswestija" hieß es, 78 Prozent der Befragten hielten Putin nach dessen jüngster Rede für "aufrichtig und ehrlich". Nur neun Prozent seien gegenteiliger Meinung, 13 Prozent hielten es angeblich für "schwierig", die Frage zu beantworten. Die entsprechende Umfrage sei in "zehn russischen Städten" durchgeführt worden.
"Es gibt sie tatsächlich"
Aufschlussreich ist die Befragung von Putin-Fans, die sich bei einem Propagandakonzert im Moskauer Olympiastadion einfanden. Der Berichterstatter des oppositionellen, im Ausland publizierten Portals "Istories" zeigte sich nach seinen Interviews überzeugt, "dass Menschen, deren Köpfe durch Fernsehbildschirme ausgetauscht wurden, keine Erfindung sind, sondern tatsächlich existieren". Er ließ einige Befragte ausführlich zu Wort kommen. "Was sie jetzt in der Ukraine oder in Amerika von uns denken, ist uns völlig egal", sagte zum Beispiel eine "patriotische" Erdkunde-Lehrerin.
Eine Studentin meinte, sie sei ja "eigentlich neutral", aber da sie nun mal in Russland lebe, unterstütze sie den Krieg. Ein Elektriker wurde mit den aus der Propaganda sattsam bekannten Worten zitiert: "Wir kämpfen für traditionelle Werte. Ich bin gegen die Schwulen, aber von der anderen Seite drängen sie uns das alles auf." Ein 22-jähriger Landvermesser machte den "Kapitalismus" für alles verantwortlich und meinte: "Im Zeitalter des Internets gibt es so viele Fälschungen, dass es schwierig ist, die Wahrheit zu erkennen."
Immerhin, Exil-Medien wie "Meduza" berichteten auch, dass "einige der Konzertgäste schon angesoffen" ins Stadion kamen, manche entsprechend rochen und andere "hastig den mitgebrachten Alkohol konsumiert" hätten, "um ihn nicht wegwerfen zu müssen". Die in Bussen aus der Provinz angekarrten Personen hätten auf Fragen geantwortet, dass sie nur "mal wieder nach Moskau" kommen wollten. Manch einer habe den Trip allerdings im Nachhinein bereut: "Es wurde minütlich kälter."
"Insgeheim eher zynisch, distanziert"
Im US-Fachblatt "Foreign Affairs" kommt der russische Soziologe Grigori Judin zu Wort, der sich "alarmiert" darüber zeigt, dass es in Russland viele Menschen gebe, die "zugeben, dass der Krieg ein schrecklicher Fehler" gewesen sei, die aber gleichzeitig sagten, "Russland habe keine andere Wahl, als ihn zu gewinnen". Sogar Hochschulabsolventen machten "alle Demütigungen" mit, in der Hoffnung, ihre Jobs zu retten. Sie seien wie Passagiere, die in einem Auto gegen die Wand rasten. Dass in nächster Zeit "noch viel mehr Menschen aussteigen", solle der Westen nicht erwarten.
Autor Joshua Yaffa fasst für "Foreign Affairs" seine Analyse der aktuellen russischen Stimmungslage so zusammen: "Die Zeit erhöhter Stress-Faktoren und der Unsicherheit hat dazu geführt, dass die russische Gesellschaft noch stärker zu ihrem grundsätzlichen Pragmatismus neigt. Die meisten Russen halten sich alles vom Leib, was sie nicht persönlich betrifft."
Konzentriertes Wegschauen sei in Russland seit eh und je eine beliebte Überlebensstrategie: "Das heißt, dem Staat nach außen Loyalität beweisen, während sie ihm insgeheim eher zynisch, distanziert begegnen. Das Putin-System hat diese Neigung aufgegriffen und dank des durch hohe Ölpreise befeuerten Konsumbooms in vielerlei Hinsicht nur verstärkt. Beide Seiten, der Kreml und das russische Volk, hielten sich weitgehend aus den Angelegenheiten des anderen heraus."
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