Zentauer-Staue in den Ruinen der durch den Ausbruch des Vesuvs zerstörten antiken Stadt Pompeij, im Hintergrund der Vulkan. Bronzefigur, halb Mensch halb Pferd.
Bildrechte: picture alliance / CHROMORANGE | Annik Susemihl

Katastrophe trotz Warnungen nicht verhindert? Die Ruinen von Pompeji, im Hintergrund der Vesuv.

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Im Angesicht des drohenden Untergangs: Eugen Ruges Pompeji-Roman

Vogelschützer gegen Besitztumswahrer: Eugen Ruge entwirft in seinem neuen Roman "Pompeji oder die fünf Reden des Jowna" ein Pompeji vor der Katastrophe, dass so einige Parallelen zu heute aufweist.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

"Glücklich ist dieser Ort!", verkündete eine Inschrift in einer der Straßen von Pompeji. Sie war zweifellos zutreffend, bis das Unheil über die Stadt hereinbrach. Was vor der großen Katastrophe geschah, das schildert Eugen Ruge in seinem neuen Roman "Pompeji", nicht unbedingt wahrheitsgemäß, aber gut erfunden.

Warner werden ignoriert

Die geophysikalische Lage der Stadt war schon seit dem großen Erdbeben von 62 n. Ch. instabil. An den Ausläufern des Vesuv traten schweflig stinkende Dämpfe aus, die manchem Vogel den Garaus machten. Ein missmutiger Privatforscher behauptete, der Vulkan sei wieder erwacht, doch kaum jemand wollte seine Warnungen ernst nehmen. Bis Josse, der struppige Taugenichts aus einer Außenseiterbande, die Parole ausgab, dass Pompeji dem Untergang geweiht sei und man am besten an einem sicheren Platz eine neue Stadt errichten sollte.

Wie fast immer, wenn es in der Weltgeschichte um nahende Katastrophen geht, gibt es jene, die von den Gefahren lieber nichts wissen wollen, um weiterhin ungestört ihren Geschäften nachzugehen, und jene anderen, die alles ändern und das Steuer herumreißen wollen.

Der fiktive "wahre Bericht" vom Untergang Pompejis

Davon erzählt Eugen Ruge in "Pompeji" und beginnt mit der kecken Behauptung, dass damit nun endlich die einzig wahre Geschichte an den Tag komme: "Vergiss, lieber Leser, alles, was du jemals über Pompeji gehört hast. Vergiss und lies. Dies ist der wahre Bericht vom Untergang Pompejis und seiner Bewohner."

Mit solch prahlerischer Großsprecherei, die als komödiantisches Kunstmittel bekannt ist, macht der Autor allerdings sogleich deutlich, dass er sich mit seiner Darstellung vor allem, wenn auch nicht ganz ohne ernste Absichten, auf das Gebiet des Fabulierens begibt. Wer in dieser Einleitung des Romans dermaßen das Maul aufreißt, das ist eine Art von Erzählkollektiv pompejanischer Zeitzeugen. Sie haben ihre Erkenntnisse einst auf Schriftrollen festgehalten und für die Nachwelt in einer versiegelten Amphore deponiert.

  • Zum Artikel: Tanz auf dem Vulkan: Glauben im Schatten des Vesuvs

Vogelschützer gegen Besitzbürger

Das ist die schön erfundene Legende zur Entstehung des Romantextes. Dann wird der Geist der Erzählung aus der Amphore gelassen und Ruge führt die Leserschaft auf den Spuren seines Helden Josse mitten hinein in die pompejanischen Wallungen, Interessengegensätze und Machenschaften. Auf der einen Seite stehen die kritischen Querköpfe, die, getarnt als Vogelschutzverein, ihre philosophischen Leidenschaften ausleben. Auf der anderen Seite stehen die Besitzbürger, denen es vor allem um die materiellen Güter geht.

Erstere wollen eine neue Stadt bauen, um dem drohenden Vulkanausbruch zu entgehen und zugleich die Gelegenheit nutzen, ihre fixen Ideen als Epikureer, Kyniker oder Pythagoräer lebenspraktisch umzusetzen. Wobei sie sich ziemlich hippiemäßig aufführen. Die Letzteren dagegen wollen behalten und weiter vermehren, was an Macht, Einfluss, Vermögen und Luxus zu ergattern ist.

Bildrechte: picture alliance / abaca | ABACA
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Alles futsch: Kürzlich ausgegrabene Wohnung von Angehörigen der Mittelschicht Pompejis.

Parodistische Spiegelung unserer Gegenwart

Josse, von bescheidener Herkunft, bewegt sich geschmeidig zwischen beiden Fronten. Von mächtigen Strippenziehern wird er umworben, weil sie spüren, dass er als ehrgeiziger Aufsteiger leicht zu ködern ist. Als die steinreiche Geschäftsfrau Livia ihn zu ihrem Liebhaber macht, eröffnen sich ihm völlig neue Perspektiven. Er wird zum Gegner seiner einstigen Mitstreiter, die ein neues Pompeji mit wahrer Demokratie und ohne römischen Imperialismus erschaffen wollen.

Als historischer Roman im strengen Sinn wirkt das manchmal ein bisschen halbseiden. Doch das ist verzeihlich, da es Ruge noch auf eine zweite Bedeutungsebene abgesehen hat: Nämlich auf die parodistische Spiegelung unserer Gegenwart in den historischen Verhältnissen von damals. Auf sehr elegante Weise wahrt er dabei die erzählerische Balance zwischen atmosphärisch dichten Schilderungen des antiken Gesellschaftslebens einerseits und den Anspielungen auf unsere heutige Gegenwart andererseits, die nie bleischwer ausfallen, sondern sich stets im spielerisch Assoziativen bewegen. Daher ähnelt die Lektüre einem äußerst anregenden Ausflug in einen antiken Erlebnispark, dessen lebendige Szenenbilder einen doppelten Boden und eine mehrfache Bedeutung haben. "Was rätst du also?", fragte Josse. Epiphanes blickte ins Nichts, dann sagte er: "Was ich dir raten soll? Es gibt kaum ein Geschäft, das so verlogen und schmutzig ist wie der Wahlkampf."

Menschheit unfähig, das Richtige zu tun

Solche Einsichten für die Ewigkeit sind amüsant, haben aber trotzdem einen ernsten Unterton. Denn Ruge erzählt, ohne groß Aufhebens davon zu machen, eine exemplarische, wohlbekannte Geschichte. Sie dreht sich um die alte Frage, die sich immer wieder aufs neue stellt: Warum ist die Menschheit angesichts absehbarer Katastrophen meist unfähig, das Richtige zu deren Vermeidung zu tun? Ruges Antwort ist einfach, aber sie hat die Empirie auf ihrer Seite: Offenbar lieben die Menschen die Abgrenzung voneinander mehr als jede Einigkeit, fortwährend versuchen sie sich zu überbieten, werfen sich Knüppel zwischen die Beine und immer wollen alle besser als alle anderen sein.

Das ist zweifellos schlimm, aber komisch ist es auch. Es ist die große, niemals endende Gesellschaftskomödie der Weltgeschichte und oft genug eine Farce. Darum stimmt der Georg Wilhelm Friedrich Hegel zugeschriebene Satz, dass sich jede Tragödie als Farce wiederholt, in diesem Fall auch umgekehrt. Die pompejanische Farce von eigensüchtigen Streitereien und kleinlichen Intrigen geht der Tragödie des Untergangs in der Vulkanasche voraus. Viel besser als es Eugen Ruge hier getan hat, lässt sich von solch menschlichem Scheitern am Allzumenschlichen kaum erzählen.

Eugen Ruge: "Pompeji oder die fünf Reden des Jowna" ist bei dtv erschienen, 364 Seiten, 25 Euro.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!