In Russland sind derzeit T-Shirts mit der Aufschrift "Ich schäme mich nicht" sehr populär, und einer der aktuell erfolgreichsten Sänger jubelt, er sei Russe der "ganzen Welt zum Trotz". Wissen die Russen wirklich nicht, was ihre Regierung mit dem Angriff auf die Ukraine angerichtet hat? Verstehen Sie nicht, welche Grausamkeiten in ihrem Namen begangen werden? Auf solche Fragen hat die Soziologin Swetlana Stevenson, die in London lehrt, in einem Essay für das im Ausland erscheinende oppositionelle Portal "Holod" eine verblüffende Antwort: "Sie blenden es aus."
Dafür gebe es gut erforschte "Neutralisierungstechniken", die auch schon von den Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus "erfolgreich" angewandt worden seien. Damals hätten "Untätigkeit, Gleichgültigkeit und Unempfindlichkeit" dominiert: "Die Menschen leugneten das Ausmaß dessen, was den Juden widerfahren war und machten einzelne Machthaber für die Gräueltaten verantwortlich. [Sie sagten sich:] Wir Deutschen sind Kulturmenschen, hier ist das zivilisierte Europa. Unschuldige werden hier nicht verfolgt und Antisemitismus hat es schon immer gegeben, es passiert nichts Außergewöhnliches." Selbst die Anwohner von Konzentrationslagern hätten versucht, "nicht hinzusehen".
"Viele werden sagen, sie kannten die Wahrheit nicht"
Ähnlich hätten die Menschen in der Sowjetunion reagiert, was die Verbrechen Stalins betreffe. Manche seien schier schizophren geworden in ihrem Schwanken zwischen Verleugnung und Erkenntnis. Stevenson nennt als literarisches Beispiel dafür den Roman "Ein leeres Haus/Sofja Petrowna" von Lidija Kornejewna Tschukowskaja (1907 - 1996), wo eine Mutter irre wird an ihren Selbstzweifeln, ob der eigene Sohn nun "schuldig" ist, wie die stalinistischen Ankläger behaupten, oder nicht.
Stevenson schreibt: "Wenn wir zur modernen russischen Gesellschaft zurückkehren, ist es offensichtlich, dass hier viele und vielleicht die meisten wissen, dass etwas moralisch Inakzeptables vor sich geht. Dieses Wissen kann nicht vollständig verdrängt werden. Wissen muss jedoch, um zu echten Konsequenzen zu führen, in Erkenntnis übergehen. Es muss hinaus in den öffentlichen Raum." Genau das werde vom Kreml jedoch mit allen Mitteln verhindert: "Wenn das Regime wechselt, werden viele sagen, dass sie nicht einverstanden waren oder nicht die ganze Wahrheit kannten."
Fünf bewährte Verdrängungs-Mechanismen
Letztlich gebe es fünf "bewährte" Strategien, eine Schuld erfolgreich zu verdrängen: Das Verbrechen werde abgestritten, das Opfer dafür mitverantwortlich gemacht, die Verantwortung mit der Ausrede geleugnet, es habe keine andere Wahl gegeben, die Gegenseite dämonisiert und die Tat schließlich mit angeblich "höheren Werten" begründet. Stevenson beruft sich dabei auf Forschungen über die Selbstwahrnehmung jugendlicher Krimineller, die von den US-Experten David Matza (1930 - 2018) und Gresham Sykes (1922 - 2010), sowie dem Kölner Kriminologen Frank Neubacher (57) vorangetrieben wurden.
Da Menschen ein angeborenes Gerechtigkeitsgefühl hätten, sei es für sie ein "starkes inneres Bedürfnis" die "unangenehme Realität", die diesem Gefühl zuwiderlaufe, zu leugnen oder zu rechtfertigen. Andernfalls sei nämlich die Selbstwahrnehmung gefährdet, die Identität in Gefahr: "Wenn dem so ist, wenn unschuldige Menschen getötet, eingesperrt, verfolgt werden können, dann kann mein [eigenes] Wohlergehen im Leben gefährdet sein." Außerdem gebe es eine Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung, schließlich könnten Kriegsgegner als "Verräter" gebrandmarkt werden.
"Regierung wird schon ihre Gründen haben"
Ein aktuelles Projekt russischer Soziologen bestätigt die Thesen von Stevenson: Bei Interviews mit Kriegsbefürwortern bekamen die Wissenschaftler immer dieselben, von der Propaganda vorgegebenen Antworten: Russland werde bedroht und verteidige sich, die Ukraine habe ihrerseits einen Angriff vorbereitet, dort regierten "Nazis", in Kriegszeiten gelte es, unter allen Umständen patriotisch zu bleiben, die Regierung werde schon ihre Gründe haben für den Krieg, auch, wenn die Normalbürgern vielleicht nicht einsichtig seien.
Gern wurde von weniger gebildeten Befragten darauf verwiesen, dass ja "alle sagten", dass Russland von Feinden umgeben ist. Es gab auch Antworten, wonach die Ukraine "aggressiv, militaristisch und menschenfeindlich" sei, wie die Taliban oder die ISIS-Terroristen, die Gegenseite wird also dämonisiert und entmenschlicht. Ein Moskauer Student zeigte sich beim Interview mit den Soziologen hin und her gerissen in seinen Emotionen: "Vielleicht ist Putin 'der Großvater, der seine Pillen nicht genommen hat', aber wahrscheinlich gab es dafür Gründe."
"Was ist das Ziel? Ich weiß es nicht"
Ratlosigkeit gibt es auch, sogar bei Akademikern. Eine 52-jährige Hochschullehrerin sagte: "Hysterie hat ja keinen Sinn. Und so fing ich einfach an, mich neu zu orientieren, ich versuchte, die Nachrichten zu ignorieren, na ja, um eine Art Gleichgewicht zu wahren. Dann gab es eine Phase, in der alles schon unausweichlich wurde und alles passierte und wir im Prinzip nicht wirklich wissen, was vor sich geht. Ich weiß, dass es nicht das ist, was uns gesagt wird. Ich verstehe, dass es etwas anderes ist. Aber was? Ich weiß es nicht. Das heißt, das wirklich große Ziel von all dem ist nicht das, was wir hören. Was ist es?"
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