Journalisten verfolgen die Rede des Präsidenten
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Diabolische Pose? Putin am Rednerpult

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"Höllische Beleuchtung": So wird Putin in Russland verspottet

Russische Journalisten und Manager zeigen sich wenig überzeugt von den jüngsten Ausführungen des Präsidenten. Die einen kritisieren seine Rede als "Selbstgespräch", anderen fehlen Perspektiven, manche sind ratlos: "Er hat selbst keine Antworten."

"Wladimir Putin sah gesund und kräftig aus. Gleichzeitig war das Mikrofonpult, von dem aus er sprach, etwas höllisch beleuchtet, aber weil der optische Eindruck, den der Präsident dadurch machte, ganz dem Geist seiner Botschaft entsprach, vor allem am Anfang und am Ende, harmonierte das in gewisser Weise perfekt", so der für seine satirische Schärfe bekannte Berichterstatter des liberalen Wirtschaftsblatts "Kommersant", Andrej Kolesnikow.

Er bescheinigte Putin einige "diabolische Nachrichten" und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass es die Zuhörer nach der "Rede zur Lage der Nation" sehr eilig hatten, aus dem Saal zu kommen - "nicht etwa zur Toilette, sondern gleich zum Ausgang". Andere Gäste wären gleich draußen geblieben und hätten sich am Büffettisch festgehalten.

"Beim nächsten Mal Solo-Comedy"

Bei Kolesnikow ist auch nachzulesen, dass Putin seine Rede wohl noch am Vorabend um zwanzig Minuten "aufgestockt" hat, um irgendwie auf Joe Bidens Überraschungsbesuch in Kiew zu reagieren. Deshalb habe der russische Präsident am Ende noch schnell die "Aussetzung" des START-Abkommens zur Rüstungsbegrenzung verkündet, ohne genauer auszuführen, wie das gemeint ist. Die Verwirrung wurde noch dadurch gesteigert, dass das russische Außenministerium wenige Stunden danach beteuerte, das Land werde sich vorerst an die Abmachungen halten.

Der spöttische Ton des "Kommersant" passt zu den ausgesprochen hämischen Kommentaren aus dem Lager der Rechtsextremen und "Ultra-Patrioten", die noch während und unmittelbar nach Putins Rede ihrem Frust und ihrer Wut freien Lauf gelassen hatten. Der besonders unerschrockene Igor Strelkow meinte sogar, bei der nächsten Rede müsse Putin mindestens "schamanische Tänze" und "Solo-Comedy" anbieten, damit ihm noch jemand zuhöre. Aber auch viele Politiker, Journalisten und Wirtschaftsvertreter reagierten aus dem Abstand einiger Stunden wenig gnädig.

"Ist ihnen auch schnurz"

Der in Russland bekannte Musikproduzent Iosif Prigoschin, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Söldnerführer, regte sich über die Bildregie des russischen Fernsehens auf: "Ich möchte, dass möglichst wenige Menschen während der Ansprache des Präsidenten einschlafen. Immer wieder zeigten sie eingenickte Menschen in der Halle, warum schlafen die? Ganz wichtig ist es doch, dass es nicht wie im Uni-Seminar ist, wo zwar alle beim Unterricht anwesend sind, aber keiner seine Hausaufgaben macht."

In diese Kerbe schlug auch Blogger Anatoli Scharij: "Ich verstehe das nicht - ist es wirklich so schwer, eine Stunde lang zu sitzen, ohne einzuschlafen? Ist das so unglaublich schwer? Diese gepflegten Gesichter, diese vornehmen Hälse, diese wächsernen Stirnen, konnten sie nicht einmal im Jahr bei der Rede ihres Präsidenten wach bleiben? Nein, leider nicht. Das ist sehr aufschlussreich, es ist ein Indikator für das große Ganze, was diese ganze Armee von Hochgestellten von dem hält, was gerade passiert. Sie schlafen. Es ist Ihnen egal." Auch Scharij tadelt das russische TV, dass "mit Milliardenbudgets" ausgestattet nichts besseres zu tun habe, als "Nahaufnahmen vom Schlafen und Schniefen" zu machen: "Weil es ihnen auch scheißegal ist. Es ist ihnen auch schnurz."

"Putin verzichtet auf körperliche Bestrafung"

Boris Meschujew, Professor am Institut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften, vergab keine gute Note. Die Rede "sei natürlich im literarischen Sinne nicht die beste", anscheinend sei sie "sehr schnell zu Papier gebracht" worden: "Das ist anscheinend die Reaktion auf einige wichtige Ereignisse, die kürzlich stattgefunden haben. Und so prägte der [schludrige] Stil den Inhalt."

Dmitri Popow, Kolumnist einer der größten russischen Zeitungen, der "Moskowski Komsomolez", und erklärter Putin-Fan hob den pädagogischen Ehrgeiz des Präsidenten hervor: "Die Hauptsache war Putins Versuch, den russischen Eliten zu vermitteln, dass es notwendig ist, ihr Weltbild und ihre Einstellung zu ändern. Er hält sich dabei an die modernen Trends in Erziehung und Bildung und verzichtet auf körperliche Bestrafung. Deshalb hörten die Eliten entspannt zu und lächelten zufrieden."

Einigermaßen skurril wirkte Popows Hinweis, der Krieg sei aus Putins Sicht "eine Selbstverständlichkeit unserer Existenz, nur ein Teil des Lebens und nichts Außergewöhnliches". Frontsoldaten bekämen ja alle sechs Monate ein paar Wochen Urlaub: "Die neue Realität, die entstanden ist, erfordert Sorgfalt."

"Wird ein Schuldiger bestraft? Nein."

Die Publizistin Tatjana Stanowaja wollte aus Putins Worten einen "Privatkreuzzug gegen den Westen" herausgehört haben, der in Russland nicht unbedingt mehrheitsfähig sei: "Wir warten auf ein allmähliches, langsames politisches 'Auftauen' der Eliten. Noch sind sie politisch gelähmt, aber sie fangen jetzt an, sich umzuschauen." Dass Kritik am Kreml grundsätzlich ungestraft möglich sei, beweise ja täglich der Söldnerführer Jewgeni Prigoschin.

Ähnlich sieht es Publizist Sergej Schelin für die "Moscow Times": "Die Ironie des Augenblicks liegt darin, dass Putin bei seiner angeblich wichtigen Rede gar nicht als Staatsmann auftrat, wenn auch mit Abstrichen, sondern als engstirniger, seltsamer und beleidigter Mensch, der anderen gegenüber gleichgültig und in Selbstgesprächen vertieft ist."

"Weiß nicht, was ich denken soll"

Politologe Sergej Markow gab sich ebenfalls skeptisch, was Putins Überblick betrifft: "Es ist zu spüren, dass er selbst keine Antworten hat." Das erste Kriegsjahr sei "eindeutig schlecht" gelaufen: "Wird ein Schuldiger bestraft? Die Antwort ist nein. Wir sind alle gemeinsam schuld." Putin habe sich entschieden, dass jetzt nicht die "richtige Zeit" sei, öffentlich über Fehlschläge zu sprechen.

Einer der bekanntesten Militärblogger, Semjon Pegow ("Wargonzo" mit 1,3 Millionen Followern) leistete sich ein Stück Realsatire, indem er feststellte, Putin habe "subtile" Botschaften übermittelt, die allerdings so "subtil" seien, dass zu ihrem Verständnis "erhebliche zusätzliche Anstrengungen" nötig seien. Er persönlich hoffe, dass endlich die "Intrigen" und die "gegenseitigen Schuldzuweisungen" an der Kremlspitze aufhörten: "Ich möchte glauben, dass das heutige eindeutige Signal des Präsidenten gründlich und in kürzester Zeit beherzigt wird. Ansonsten weiß ich nicht, was ich denken soll."

"Er versucht, Loyalität zu erkaufen"

Parlamentsabgeordneter lja Wolfson sprach von einer "lebensbejahenden Botschaft", was angesichts der Kriegstoten einigermaßen grotesk wirkt und steigerte diesen Eindruck noch damit, dass er behauptete, Putin sei kein "Überlebenskünstler", sondern ein "selbstbewusster und geschickter Spieler". Die kremlkritische Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulman sagte zu Putins Ankündigungen sozialer Wohltaten: "Der Kerngedanke, der sich durch die ganze Rede zog, ist: Er versucht die Bürger zu besänftigen und sich ihre Loyalität zu erkaufen. Die normalen Leute mit Geld und Zuwendungen, die Manager mit Karriereaussichten."

Auch Politologe Fjodor Krascheninnikow verwies auf Putins Hang zu sozialen Versprechungen: "Seine Wählerschaft, die seine Rede im Fernsehen verfolgte, nicht im Internet, und die sonst nichts mitbekommt, wird diese Rede mögen. Sie war nicht so sehr mit geopolitischen Spekulationen und pseudohistorischen Fabeln gefüllt, sondern mit einem breiten Programm sozialer Wohltaten."

Versucht es Putin mit "Appeasement"?

Alexej Tokarew von der Moskauer Wirtschaftshochschule machte sich in der regierungsnahen "Iswestija" die Mühe, Putins Rede statistisch auszuwerten ("Botschaft in Zahlen") und kam zum Ergebnis, dass er 6.309 Wörter für die Sozialpolitik aufwendete, was knapp sechzig Prozent des Gesamttexts entspräche: "Der russische Präsident sieht eindeutig nicht aus wie ein Mann, der sich darauf vorbereitet, den Planeten in radioaktive Asche zu verwandeln." Das häufigste Wort sei übrigens "wir" gewesen.

Der kommunistische Duma-Abgeordnete Denis Parfjonow hatte den Eindruck, dass aus der Sicht Putins "jede Beteiligung der Gesellschaft an der Politik eher unerwünscht ist und bis zu einem gewissen Grad sogar gefährlich" erscheine. Deshalb habe der Präsident eine Art "Appeasement" versucht, also seine Zuhörer nach Kräften beschwichtigt. Einer der wichtigsten Politikberater des Landes, Fjodor Lukjanow, fasste Putins fast zweistündigen Auftritt in einem Satz zusammen: "Wir verlassen uns nur noch auf uns selbst." Der "Rest" der Welt werde ausgeblendet.

"Verheißt nichts Gutes für uns alle"

Die kremlnahen Politologen waren unterschiedlicher Ansicht: "Putin möchte ein vollwertiger Gewinner sein, und das verheißt nichts Gutes für uns alle", sagte Konstantin Kalaschew, während sein Kollege Ilja Graschchenkow, der Präsident der russischen Stiftung "Zentrum für regionalpolitische Entwicklung" geradezu aufatmete: "Alle erwarteten, dass die Botschaft militaristischer sein würde, aber sie entpuppte sich im Gegenteil als eher friedlich. Wir können sagen, dass der Präsident einen großen Schritt in Richtung Friedenspartei, der Normalisierung des friedlichen Lebens, gemacht hat. Tatsächlich bedeutet das einen allmählichen Fortschritt in Richtung einer Art von Verhandlungen."

"Chaos wurde zum bestimmenden Faktor"

Der Chefredakteur der im Ausland erscheinenden "Novaya Gazeta", Kirill Martinow, war der Meinung, dass Putin seine treuesten rechtsextremen Fans vor den Kopf gestoßen hat: "Die Rede insgesamt war demoralisierend für diejenigen, die auf den Befehl des Oberbefehlshabers warteten, den Knopf zu drücken. Stattdessen überbrachte Putin eine Botschaft aus der Vergangenheit: Trotz gelegentlicher Schwierigkeiten, etwa administrativer Hürden für Unternehmen, laufe alles nach Plan und es gebe nichts zu befürchten."

Anders als die Ukrainer wüssten die Russen auch nach Putins Auftritt nicht, wofür sie eigentlich kämpften: "Die sogenannte Stabilität war Putins wichtigstes innenpolitisches Gut, und jetzt ist das Chaos, das er über viele Jahre in der Welt gesät hat, zum bestimmenden Faktor im Leben Russlands selbst geworden."

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