Was für gegensätzliche Bilder: Wladimir Putin feierte das orthodoxe Weihnachtsfest völlig allein in einer Kreml-Kapelle und posiert auch sonst am liebsten einsam am Schreibtisch, während der Chef der Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin (61), sich gern im Kreise seiner Söldner präsentiert, und zwar nach eigener Darstellung nahe der Front. Nach der von ihm behaupteten Einnahme der Kleinstadt Soledar, die einst rund 10.000 Einwohner hatte, war Prigoschin nichts wichtiger, als erstens ein Foto zu posten, auf dem er unter Schwerbewaffneten in einer Salz-Mine seinen "Sieg" feiert und zweitens darauf hinzuweisen, dass "außer den Kämpfern von Wagner keine [anderen] Einheiten an dem Angriff auf Soledar teilgenommen" hätten.
"Persönlich erstaunlich höflich"
Die Botschaft kam an: "Hier ist der neue Held: Prigoschin und Wagner. Jetzt muss Wagner noch mehr Mittel vom russischen Staat bekommen", forderte umgehend der kremlfreundliche Politologe Sergej Markow und fragte sich, wie der Kreml den "Triumph" in Soledar wohl verkaufen werde, schließlich sei das nicht der Erfolg der "regulären Armee". Die Chefin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, schrieb begeistert, das Bemerkenswerteste an Prigoschin sei, dass er "im persönlichen Umgang erstaunlich höflich" sei. Er habe seinen Landsleuten einen "russischen Frühling" beschert.
Blogger Wladlen Tatarsky (500.000 Follower) pries die "Unternehmensethik" von Prigoschins Firma, "basierend auf Vaterlandsliebe, Selbstaufopferung und hartem, kompromisslosen Militarismus". Das alles habe sich als stärker erwiesen als die ukrainische "Sehnsucht nach Europa". Auf dem rechtsextremen Portal "Tsargrad" war die hämische Zeile zu lesen, vermutlich würden "die Führung der russischen Armee und der Beamtenapparat" über die Ereignisse in Soledar "nicht viel" sagen, da ausschließlich Söldner beteiligt seien - ein Hinweis darauf, wie gering das Ansehen des Kreml unter seinen einstmals treuesten Fans geworden ist.
Immerhin: Das russische Verteidigungsministerium mischte sich mit der vielsagenden Meldung in den "Jubel" um Prigoschin ein, wonach Fallschirmjäger der regulären Armee auch am Kampf um Soledar beteiligt seien.
"Niemand zählt die Toten"
Wie die Lage vor Ort in Soledar wirklich ist, darüber gibt es im Übrigen sehr unterschiedliche Angaben, wenngleich das Vorrücken von Prigoschins Männern nicht angezweifelt wird. Es sei allerdings "zu früh", über die vollständige Kontrolle der Kleinstadt zu sprechen, so der populäre Blog "Wargonzo". Auf CNN sagte ein ukrainischer Soldat: "Niemand in Soledar zählt die Toten. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wer wohin gegangen ist und wer sich wo aufhält, weil niemand es genau weiß. Es gibt ein riesiges Niemandsland in der Stadt, das jeder zu kontrollieren behauptet, aber das ist leere Propaganda." Am Mittwochmittag erklärte auch das ukrainische Militär, Soledar sei noch nicht unter russischer Kontrolle. Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, Soledar sei zwar eingekesselt, die Kämpfe hielten aber an.
Zu den Eigenarten von Prigoschin gehört, dass er anders als die staatliche Propaganda das Geschehen an der Front vergleichsweise realistisch beschreibt. So warnte er immer wieder vor verfrühten "Siegesmeldungen" und widersprach der Behauptung, ukrainische Soldaten zögen sich in der Schlacht um Soledar und das benachbarte Bachmut vorzeitig zurück: "Das stimmt nicht. Die ukrainische Armee kämpft tapfer für Bachmut und Soledar. Am westlichen Stadtrand von Soledar kommt es zu schweren blutigen Kämpfen. Die Streitkräfte der Ukraine verteidigen ehrenhaft das Territorium von Soledar. Daher sind die Informationen über ihre Massenflucht nicht wahr."
Karte: Die militärische Lage in der Ukraine
"Fühlt sich nicht nach Sieg an"
Der Kommunikationsstil von Prigoschin unterscheidet sich also deutlich von der skurrilen Schönfärberei des russischen Verteidigungsministeriums. Deshalb wurde der Söldnerchef zum Liebling der Nationalisten, wenngleich einige der wichtigsten Vertreter nach dem angeblichen Erfolg in Soledar doch sehr gedämpfte Freude äußern. Nach einem "Sieg" fühle sich das nicht an, so ein prominenter Militärblogger, er stehe "in keinem Verhältnis zu den Verlusten". Für "nationale Euphorie" gebe es keinen Grund: "Der Preis ist ziemlich hoch." Ein Hinweis auf die hohe Zahl von Opfern in der Privatarmee Wagner, über die es offiziell natürlich keine Angaben gibt.
Prigoschins Truppe habe "unglaubliche Anstrengungen" hinter sich, so Alexander Chodakowski, der früher mal Minister für Staatssicherheit im Donbass war, aber die Wagner-Söldner seien "nicht in der Nähe von Kiew, sondern von Donezk", daher wolle er daran erinnern, dass Freudenausbrüche "schon mehrfach von bitterer Enttäuschung" abgelöst worden seien. Der rechtsextreme Putin-Kritiker Igor Strelkow geht sogar noch weiter und verwies darauf, dass Prigoschins Leute zwar einen "unbestrittenen taktischen Erfolg" eingefahren, aber nicht die Front "durchbrochen" hätten.
"Bisher laufen die Kämpfe nach einem für die Vereinigten Staaten strategisch vorteilhaften Szenario ab – je länger Russland seine Streitkräfte in taktischen und nicht entscheidenden Schlachten im Donbass dezimiert, desto besser", so Strelkow wenig optimistisch.
"Staatsapparat macht schwere Zeiten durch"
Der Militär-Publizist Maxim Kalaschnikow pflichtete Strelkow in einem langen Interview bei: "Bisher geht alles, was getan wird, eher in die falsche Richtung." Russland sei einer "schrecklichen Fehleinschätzung" erlegen und habe sich statt eines "Blitzkriegs" einen "gefährlichen langwierigen Konflikt" eingehandelt. Für den Fall weiterer Mobilisierungen fürchtet Kalaschnikow sogar eine "soziale Explosion" und Aufstände wie in St. Petersburg am Ende des Ersten Weltkriegs: "Auch der Staatsapparat und die Geheimdienste der Russischen Föderation machen jetzt schwere Zeiten durch."
Politologe Andrej Kolesnikow kommt nach den jüngsten Ereignissen in Soledar zum Schluss, in Russland sei das staatliche Gewaltmonopol und damit Putins Position erschüttert. Um es "vorsichtig auszudrücken", habe Russland "exklusive staatliche Funktionen" auf Söldnerführer Prigoschin "ausgelagert": "Jetzt werden die Masken nicht einfach fallen gelassen, sondern bewusst und trotzig fallen gelassen. Das schlechte Benehmen von Bösewichten wird vom Staat gefördert." Legal sei daran nichts, das geltende Recht und der Staat verfielen dadurch, dass Strafgefangene an die Front geschickt und dort sogar dekoriert würden. Prigoschin ist bekannt dafür, seine Söldner auch in Haftanstalten zu rekrutieren.
"Für einen normalen Menschen nicht mehr klar"
"Die Ausübung von Gewalt wird verstreut, aufgeteilt, es ist für einen normalen Menschen nicht mehr klar, wer die Quelle der im Namen des Staates geheiligten Androhung von Gewaltakten ist. Als Ergebnis haben wir Chaos und eine Ausweitung der Gewaltsphäre – halblegal und illegal", so die Analyse von Kolesnikow. Der Staat verliere damit seinen "institutionellen Rahmen": "Aber wer denkt schon daran, wenn es darum geht, kurzfristige (und sehr dringliche) Aufgaben zu lösen."
Die massenhafte Mobilisierung von Häftlingen vergleicht Chefkommentator Michail Tschipanow vom russischen "News"-Portal sogar mit den Machenschaften von Stalins Geheimdienstchef und Nachfolger Lawrenti Beria, der sich einst damit an der Macht halten wollte, dass er tausende von Kriminellen freiließ, um die Gesellschaft zu destabilisieren. "Man kann natürlich sofort einwenden: Wenn genug Freiwillige im Land wären, dann wäre es nicht nötig, die Verbrecher zu amnestieren", so der russische Journalist: "Deshalb täten viele Kritiker von Prigoschin gut daran, sich an die alte Wahrheit zu erinnern, dass es sinnlos ist, einem Spiegel die Schuld zu geben, wenn das Gesicht schief ist."
"Mangelnde Bereitschaft bestimmter Kreise"
Es komme allerdings darauf an, dass der Kreml alle rekrutierten Ex-Hälftinge auch wirklich, wie versprochen, begnadige, so Tschipanow. Zweifel daran seien angebracht, da es viele "traurige Beispiele" dafür gebe, in denen Menschen vergessen worden seien, die sich um Russland verdient gemacht hätten und es hinter den Kulissen "eine mangelnde Bereitschaft bestimmter Kreise" gebe, Prigoschins Einfluss weiter zu erhöhen.
In kremlkritischen Diskussionsforen und russischen Exil-Medien wird darüber spekuliert, dass Kremlchef Wladimir Putin derzeit alle Hände voll zu tun hat, die Begeisterung für Prigoschin zu kanalisieren und dessen Macht einzuschränken, um sich selbst zu retten: "Keine leichte Aufgabe, da die Mehrheit der Führungselite weiß, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden kann." Im Kreml gelte Putin bereits als "lahme Ente", zumal er sich rar macht und seit Neujahr auch auffällig deprimiert wirke.
"Putin dämmerte, dass er das System ruinierte"
Mehrere gut informierte Beobachter glauben, dass der Präsident zaghafte Versuche macht, die Begeisterungswelle für Prigoschin ins Leere laufen zu lassen. So wurde General Alexander Lapin, den Prigoschin wegen angeblicher Unfähigkeit scharf kritisiert hatte, nicht etwa dauerhaft kalt gestellt, wie angesichts der Wagner-Euphorie zu erwarten gewesen wäre, sondern auf den formal klangvollen Posten des "Chefs des Generalstabs der Bodentruppen" befördert: "Putin dämmerte, dass er das System [der Machterhaltung] mit eigener Hand ruinierte, also beschloss er, diesen Prozess zu bremsen", meint Politologe Abbas Galljamow.
Kremlnahe Militärs sagten dem im Ausland erscheinenden Portal "Istories", Lapin sei wohl "unter Missachtung" von Prigoschin in Amt und Würden gehalten worden, um dem Söldnerchef seine Grenzen aufzuzeigen. Ungeachtet dessen genieße Prigoschin weiterhin "Unabhängigkeit", weil seine Männer motivierter und effektiver seien als die Soldaten der Armee. Prigoschin selbst hat die "Botschaft" anscheinend verstanden, versicherte er doch umgehend, er habe den umstrittenen General "in keiner Weise" für die desolate Lage an der Front verantwortlich gemacht. Der Mann habe auch nur die Befehle seiner Vorgesetzten ausgeführt.
Lage im ostukrainischen Soledar weiter unklar