Mehr als ein halbes Jahrhundert lang sind sie ein Paar. Zwei alte Liebesleute, wie es gleich im dritten Satz heißt. Sie sind immer zusammen, zweisam in der mecklenburgischen Einöde. Der heutige Tag, jeder Tag, er beginnt so: "Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist. Ich liebe ihn sehr."
Pflege: eine Liebestat
Derden nennt Helga Schubert ihren Mann im Buch, "Der, den ich liebe". Er ist schwerkrank und dement – sie pflegt ihn, liebevoll, rund um die Uhr. In ihrem Buch "Der heutige Tag" beschreibt sie detailgetreu, wie sie seine Blase spült, für ihn kocht oder ihn beruhigt, wenn er voller Ängste nach ihr ruft. Jede Nacht: das Babyphone als Nabelschnur. Für sie ist diese Aufgabe eine Liebestat – anstrengend und wunderschön. Andere raten ihr, ihn doch loszulassen: "Hören Sie auf, ihm so hohe Dosen Kalium zu geben. Damit verlängern sie doch sein Leben! Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung, dachte ich. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen."
Das Schreiben, ihre Rettung
Abends, nach dem Gute-Nacht-Kuss, setzt sie sich an den Arbeitstisch, kehrt zurück in ihre Welt: Das Schreiben ist für sie Rettung, aber auch nur möglich, weil sie ihn pflegt: "Und dann merke ich auch: Ich bin auch am Tag bei mir – das habe ich auch nicht gedacht – weil ich ein gutes Gewissen habe ihm gegenüber. Es registriert dauernd, mein Gehirn. Also es ist so, dass ich dauernd immer alles, was ich erlebe und was ich höre – das kann ich jetzt ja nicht schreiben. Also ich schreib nichts auf. Ich mache mir auch keine Notizen, aber ich denke dauernd: Ach, das kann man gebrauchen. Ich bin im Grunde genommen viel mehr als früher, obwohl ich viel mehr in Wirklichkeit tue für ihn, bin ich jetzt viel stärker in mir selber drin."
Eine symbiotische Beziehung
Von der Gegenwart wandert Helga Schubert schreibend immer wieder in die Vergangenheit der beiden Liebenden – man könnte die Kapitel auch in anderer Reihenfolge lesen: Mal erzählt sie vom Kennenlernen, als sie noch Psychologie-Studentin war und er der 13 Jahre ältere Dozent. Mal davon, wie sie Jahrzehnte später gemeinsam ihre Stasi-Akte lesen. Sie sind ein Paar, das jahrzehntelang in intensivem Austausch steht. "Also es ist ein Dauer-Gespräch und das hört jetzt langsam auf, weil bei ihm nur noch das Allerwichtigste wichtig ist, also ganz, ganz wesentliche Dinge. Die Hauptsache ist: Wirst du bei mir bleiben. Das ist das, was er mich fragt – Und du bleibst doch bei mir? Ich kann doch hier zu Hause sterben? – Das ist für mich ganz wichtig, dass ein Mensch so hundertprozentig mir vertraut. Und diese Nähe ändert sich in eine ganz existenzielle Symbiose fast. Das ist das, was ich sehr, sehr schön finde."
Einübung in den Umgang mit Demenz
Zu Beginn hält sie seine Halluzinationen, seine Abkehr nur schwer aus. Sie versucht, ihn in dieser Welt zu halten, korrigiert ihn, welches Datum ist. Doch irgendwann beginnt sie, sich in seine Welt hineinzuschwingen; nicht mehr anzukämpfen etwa gegen den imaginierten Männerchor. So feiern sie am 18. Februar eben noch mal Weihnachten. Sich darauf einzulassen sei eine "wohltuende Erweiterung", sagt die 83-Jährige. Befreiend ist auch das gemeinsame Lachen nach einer Schrecksituation – etwa als er ausgebüxt ist und sie ihn draußen wieder in den Rollstuhl hieven muss:
"Du hast mir wieder geholfen. Der Mensch denkt und Gott sternt. – Gott lenkt, meinst Du? - Nein, er sternt, er sterbst. Wir lachten erleichtert." In Helga Schubert: Der heutige Tag"
Humor bewahren!
Helga Schuberts Tipp – und vielleicht auch der hauptsächliche Sinn ihres ganzen Buchs sei, dass man den Humor bewahren müsse", sagt die Schriftstellerin. "Wissen Sie? Das ist es echt: Die Leute bringen sich um die Chance, ein Leben wirklich so in seinem Ausatmen zu lieben beim anderen, wenn sie so früh die Menschen ins Heim bringen." Helga Schubert romantisiert den Alltag als pflegende Ehefrau nicht. Sehr ehrlich schildert sie auch Momente der Verzweiflung und der Trauer – um sie beide, und auch mal nur um sich selbst.
Sie fühlt sich im Stich gelassen von Derdens Kindern, machtlos angesichts der vielen Hürden, nur für 24 Stunden eine Ersatz-Pflegekraft anzustellen, wenn sie mal eine Lesung hätte. Stellt sich manchmal vor, wie es wäre, tot zu sein.
"Man muss sich auch verzeihen"
"Wenn man selbst verzweifelt ist, dann ist ja auch der Partner, den man pflegt, verzweifelt, weil er sich als Ursache fühlt. Dabei ist es nur die eigene Unfähigkeit, die Kraft richtig auch wieder zu regenerieren und auch die eigene Hilflosigkeit, dass man die mal anerkennt, dass man das eben nicht alles schafft und dass man sich das alles verzeihen muss. Man muss sich auch verzeihen, dass man manchmal nur noch weint." , sagt Helga Schubert. Das Buch ist kein Lamento, auch keine Biblio-Therapie. Doch das Reflektieren durch das Schreiben habe ihr geholfen, sagt Helga Schubert, so wie ihr das Relativieren durchs Beten helfe: Jeden Morgen bete sie um Kraft.
Eine Liebeserklärung, die lange nachhallt
Ihre Erkenntnis: Das Gute muss man, KANN man gar nicht loslassen - es bleibt. "Das ist übrig nach unseren Jahrzehnten, dachte ich: Hände, die sich aneinander wärmen. In guten und in schlechten Zeiten. Aber es sind gar keine schlechten Zeiten."
Helga Schubert erzählt in einfachen Sätzen, ohne Pathos. Gerade das ist so berührend. "Der heutige Tag" handelt davon, wie man dem Anderen beim Altwerden die Würde bewahrt und sich selbst beim Pflegen nicht verliert. Der Text ist ein Aufruf, im Jetzt zu leben und zu lieben. Und eine Liebeserklärung, die lange nachhallt.
Helga Schubert: "Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe" ist bei dtv erschienen.
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