Bayern 2-radioWelt: Erleben Grenzen gerade eine Renaissance?
Dr. Christoph Kleinschmidt: Es geht eigentlich immer darum, sich über Grenzen zu verständigen. Momentan wäre es nötig, sich darüber zu verständigen, was Grenzen überhaupt sind. In der gegenwärtigen politischen Diskussion werden sie als so etwas wie scharfe Einschnitte verstanden. In der Wissenschaft interessieren wir uns für das Phänomen der Grenze als einem Ort der Begegnung, wo Dinge möglich sind, wo wir also eher etwas Produktives beobachten.
Bayern 2-radioWelt: In der Wendezeit wollten alle die Grenzen niederreißen. Wen heute offene Grenzen eher wieder als Bedrohung empfunden?
Dr. Christoph Kleinschmidt: Es gehört zum menschlichen Grundbedürfnis, Grenzen zu ziehen - aber auch, Grenzen zu überschreiten. Das sind zwei grundlegende Dimensionen. Die Grenze zu ziehen, bedeutet ja, sich eine Identität zu schaffen. Zugleich denken wir darüber nach - in der Wissenschaft, in der Religion - wie wir bestimmte Grenzen überschreiten können. Wissenschaftlicher Fortschritt ist nicht ohne Grenzüberschreitung zu denken. Insofern sollte man beides berücksichtigen.
Bayern 2-radioWelt: Sind denn sichere Grenzen, die alles draußen halten, eine Illusion?
Dr. Christoph Kleinschmidt: Es liegt ja in der Logik des Begriffs, dass Grenzen überschritten werden müssen, damit sie gelten, damit sie sichtbar sind. Grenzen sind ja auch Verhaltensnormen - wie etwa im Straßenverkehr. Wenn keiner mehr an einer roten Ampel hält und keiner mehr die Regel kontrolliert, dann gilt sie nicht mehr. Grenzen haben aber auch sozusagen eine "Halbwertszeit", irgendwann erlischt die Funktion der Grenze, das sehen wir an der Berliner Mauer. Gerade unsere Geschichte zeigt, dass es auch gut ist, dass Grenzen überwunden werden können. In der europäischen Geschichte fand die Herausbildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert unter einem ähnlich massiven Abgrenzungsdiskurs statt, wie wir ihn heute gegenüber Flüchtlingen erleben. Diese staatliche Identitätsbildung beruhte auf einem Akt der Abgrenzung. Mit dem Schengener Abkommen haben wir heute einen Freiraum, den wir als westliche Bürger auch schätzen, aber als symbolische Grenzen sind die noch tief verankert. Ich denke, dass der von außerhalb der EU kommende Impuls durch die Flüchtlinge eine Art Regress bedingt - in diese scharfe binneneuropäische Abschottung.