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Adrian Daub

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Gibt es wirklich eine Kultur des "Cancelns"?

Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub nimmt sich in seinem neuen Buch die Cancel Culture-Diskurse und ihre Übertragung auf die Gesellschaft vor. Werden missliebige Positionen mit Denkverboten und rigiden Sprachregeln gezielt ausgeschaltet?

Redaktionen fragen ihn gerne an, und er könnte ein idealer Autor von Cancel Culture-Artikeln für das deutsche Publikum sein: Adrian Daub, Professor im kalifornischen Stanford, jenseits der 40, weiß, vertraut mit dem seltsamen Biotop des US-amerikanischen Campus, in dem die Cancel Culture am besten gedeihen soll. Jene Diskursverweigerung im Namen von aktivistischen Minderheiten, die überall Diskriminierung wittern – und missliebige Positionen mit Denkverboten, rigiden Sprachregeln und persönlichen Attacken ausschalten wollen. Daub hat sie nicht geschrieben, diese Artikel, sondern ein Buch über die Logik ihrer üblichen Fabrikation.

"Es geht um die Art und Weise, in der US-amerikanische Diskurse über political correctness und dann später eben Cancel Culture, Wokeness, Identitätspolitik und so weiter nach Europa kommen", sagt Daub. "Und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits als ein Diskurs über die USA, aber eben immer mehr mit einer Note von: Das kommt jetzt auch zu uns. Das ist ein Amerikanismus, dem wir jetzt sozusagen ausgeliefert sind. Das ist der Transfer, um den es mir in dem Buch geht."

Daub: "Kultur" des Cancelns lässt sich nicht ausmachen

Adrian Daub hat viele Texte ausgewertet und Datenbanken zu angeblichen Cancel-Fällen durchgesehen. Sein Punkt ist nicht, dass alle dort gelisteten Beispiele unproblematisch wären, sondern dass ihr Gesamtbild "zutiefst uneindeutig" ist, wie er schreibt. Die Fälle seien höchst unterschiedlich, viele erwiesen sich bei genauerer Prüfung als deutlich weniger dramatisch. Eine ganze "Kultur" des Cancelns lasse sich daraus jedenfalls nicht machen.

"Cancel-Culture-Diagnosen werden fast komplett an einzelnen Anekdoten festgemacht, und diese Storys […] stellen keine unschuldigen Datenpunkte dar; vielmehr sind sie tendenziös gestrickte, häufig nur auf einer einzigen Gewährsperson basierende Fabeln", schreibt Daub in seinem Buch.

Das Anekdotische, so Daub, ist wesentlich für Cancel Culture-Befunde. Einen besonders erhellenden Teil seines Buches widmet der Literaturwissenschaftler einer Art Poetik dieser Anekdoten. Sie arbeiten weniger journalistisch als literarisch, porträtieren unschuldige Helden, denen es beinahe ergeht wie Josef K. aus Kafkas "Prozess": "Jemand" muss sie "verleumdet haben".

Neuauflage der Debatten um politische Korrektheit

Was genau passiert ist, das ist für die Anekdote nicht entscheidend. Sie erzählt ein losgelöstes Exempel und ist zugleich auf Wiederholung aus, ihre Schreckensszenarien sollen immer kurz vor der Verwirklichung stehen – und ähneln sich doch seit Jahrzehnten. Für Adrian Daub ist die Warnung vor Cancel Culture eine Neuauflage der Debatten um politische Korrektheit aus den 1990er-Jahren. Über gendergerechte Sprache oder das N-Wort wurde schon damals gestritten – mit einem bestimmten politischen Hintergrund.

"Ein Aspekt, der das Phänomen der Political Correctness so ergiebig und interessant gemacht hat, ist eben, dass das ein Moment war, in dem wirklich rechte Topoi, eindeutig konservative Topoi, in den linksliberalen und liberalen Mainstream sozusagen übergesprungen sind, sowohl in den USA als auch in Deutschland", sagt Daub.

Cancel Culture-Erzählungen schüren gezielt "moralische Panik", so Daub. Den Begriff prägte der Londoner Soziologe Stanley Cohen 1972, gemeint ist damit, dass eine bestimmte Gruppe oder Praxis in strategischer Übertreibung als Gefahr für die öffentliche Ordnung dargestellt wird: "Ein lokaler, oft mikroskopisch kleiner Kontext wird fast wie durch Zauber entgrenzt, und Vorgänge in irgendeiner Twitter-Nische, an irgendeiner Uni, bei irgendeinem Verlag, von dem bis dato weder der Autor eines Beitrags noch seine Leser:innen je gehört haben, werden mit einem Mal als bedrohlich für 'die' Gesellschaft empfunden", schreibt Daub.

Was moralische Panik bewirkt

Die moralische Panik dient nach Adrian Daub dazu, den Diskurs zu verschieben: Man redet über Cancel Culture, um nicht über Rassismus oder Sexismus reden zu müssen. Daubs Buch antwortet darauf wiederum mit einem Wechsel der Blickrichtung, indem es Motive des Cancel Culture-Alarmismus selbst unter die Lupe nimmt. Dazu gehört die betont subjektiv feuilletonistische Form typischer Cancel Culture-Artikel. Als Zeitungsleserin kennt man diese Formate, die eher Sound als These sind – Adrian Daub deutet sie auch als Machtgeste: "'Wer muss es in diesem Diskurs immer besser machen als der andere?', ist, glaube ich, keine nebensächliche Frage. Das ist Teil der Gestik, dass man sagt: Ich muss mir die Mühe gar nicht erst machen, die Mühe gehört auf die andere Seite."

Daub zeigt das an den "geradezu spektakulären Schlenkern", die sich solche Feuilletons erlauben, jenseits jeder plausiblen Argumentation, obwohl sie doch im Namen der Vernunft geschrieben werden. Ein Beispiel im Buch ist ein Text aus der Neuen Zürcher Zeitung, der einen absurd gewaltigen Fundus an Kulturgeschichte des Gesinnungsterrors anzapft – von Robespierre über Orwell und "Schauprozesse unter Stalin, Hitler und Mao" – um schließlich bei einer kleinen Broschüre aus Oregon über Rassismus im Matheunterricht zu landen. Man kann das im Archiv nachlesen, Daub übertreibt also keineswegs.

An solchen Stellen entfaltet das gründliche und engagierte Buch auch seine polemischen Qualitäten. Was jedoch nicht stört, denn es führt so die eskalatorische Biederkeit vor, in der sich die Rede vom Kulturkampf der Empfindlichen eingerichtet hat. Natürlich wird all das, das weiß auch Adrian Daub, niemanden überzeugen, der in diesem Winkel bleiben will. Für alle anderen aber ist "Cancel Culture Transfer" ein Gewinn – ein kraftvolles Buch zur laufenden Debatte.

Adrian Daub, "Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst", 371 Seiten, Suhrkamp Verlag, 20,00 Euro

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