Man sieht eine Theaterbühne, auf der die Eingangshalle eines Gebäudes gebaut ist, das ausschaut wie ein Spukschloss.
Bildrechte: Gorki Theater

Szene aus "Geschwister"

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"Geschwister": Theaterstück über das nationalsozialistische Erbe

Vom Nationalsozialismus bis in unsere heutigen Tage gibt es eine Kontinuität des rechten Erbes, von Hoyerswerda bis zum NSU, zu Pegida und der AfD: Kollektiv durchdringt es die Gesellschaft. Regisseur Ersan Mondtag hat dazu ein Stück geschrieben.

Das Theaterstück beginnt mit dem 2. Juni 1967, dem Tag, als Schah Mohammad Reza Pahlavi West-Berlin besucht und in den niedergeprügelten Studentenprotesten gegen ihn Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wird. Und es endet am 9. September 2000, dem Tag, an dem der Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg zum ersten Mordopfer der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund wird. Als blutige Fanale rahmen diese beiden Ereignisse die Geschichte, die Ersan Mondtag sich da für das Maxim Gorki-Theater in Berlin erdacht hat.

Familiäres Spukschloss

Zu Beginn hat sich die gespenstische Familie in ihrer Villa am Wannsee mit Kamin, Eingangshalle und den drei Schlafzimmertüren treppauf versammelt, um den 85ten Geburtstag des längst verstorbenen Großvaters zu feiern. Am Schluss ist nun auch der Vater tot, dessen Verstrickung in die nationalsozialistische Vergangenheit und vor allem ihre bundesrepublikanische Fortschreibung tief ist, wie man inzwischen erfahren hat, und die verbliebenen Erben, die titelgebenden Geschwister, kommen noch einmal in ihrem Elternhaus zusammen.

Generationelles Erbe

Die letzten 100 Jahre deutscher Geschichte also als Brutstätte für den Generationentransfer. Friedrich, das war der kleine Junge, der zu Beginn als stotternd-blasser Spätgeborener mit seinen Eltern und den längst erwachsenen Schwestern an der bürgerlichen Tafel die Suppe im Takt der Standuhr löffelt. Nun weht er als zerbrechliches altes Kind im schlotternden Anzug in Gestalt des Schauspielers David Bennent herein und will das Verdrängte ins Bewusstsein holen, das seine eine Schwester, die Verdrängungskünstlerin, längst und für immer weggeschlossen hat. Die andere Schwester dagegen ist bei den Studentenunruhen ihrem antifaschistischen Engagement zum Opfer gefallen. Drei Geschwister also und drei Möglichkeiten, mit den Samen der Geschichte umzugehen.

Zwischen Splatter und Vergangenheitsbewältigung

"Geschwister" von Ersan Mondtag, das ist eine Mischung aus schwarzweißem Splatter-Movie und Familienaufstellung. Da wirft der im misogynen und rassistischen Herrschaftssprech erprobte Patriarch ebensolche schwarzen Schatten wie die Hirschgeweihe an der Wand. Da lässt die Mutter ihren ehelichen Frust an dem türkischen Dienstmädchen aus, da versucht der Blick durch die Videoscreens in die jeweiligen Schlafzimmer die gefährliche Tristesse einer versteinerten Familie zu zeigen. Dazu erklingt die Zauberflöte oder auch mal die Eroica, dirigiert vom Naziliebling Wilhelm Furtwängler, und manchmal wabert Nebel durch diese bürgerliche Hölle. Doch während die – wie immer bei Ersan Mondtag – ebenso wohltemperierte wie bedrohliche und zugleich fast märchenhafte Ästhetik tatsächlich etwas von dem faschistoiden Humus vermitteln kann, auf dem das heutige Deutschland in den letzten 70 Jahren erbaut wurde, wirkt die Geschichte selbst dann doch allzu naheliegend konstruiert, allzu offensichtlich, allzu überraschungslos, als dass sie zu einem wie auch immer gearteten Erkenntnisgewinn taugen würde. Aber vielleicht ist Ersan Mondtag, der inzwischen seine vielbeachtete Regiekarriere auch erfolgreich in die Oper ausgedehnt hat, nicht auch noch der begnadete Autor. Diese dann doch missglückte Geschichtsstunde jedenfalls belegt und unterstreicht das.

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