Der Eingangssaal des Frankfurter Museums für Moderne Kunst zeigt einen umlaufenden Fries aus blauem, gestrickt wirkendem Muster, das trotz löchriger Dehnung seltsam regelmäßig erscheint. Wie eine zarte Barriere, die sich im nächsten Moment in die Luft erheben könnte. "Prisoner of yourself", also "Gefangener Deiner selbst" heißt diese Arbeit, die per Siebdruck direkt auf die Museumswand gebracht worden ist. Das Image als Strickkünstlerin, so scheint Rosemarie Trockel zu sagen, verfolgt mich seit langem, ich bin Opfer meines Erfolgs. Aber so schlimm ist das auch wieder nicht. Könnte ein Leitmotiv für uns alle sein, meint Susanne Pfeffer, Direktorin des Hauses: "Dass wir alle in uns selbst gefangen sind, in unserer eigenen Identität, in unserem Geschlecht, in unserer Kultur. Dass es eigentlich ein Lebtag gilt, immer wieder aus diesen Strukturen, die ja auch oft sehr starr und gewalttätig sind, auszubrechen."
Herdplattenreliefs und Strickbilder
In einem ganz in der Nähe zu sehenden Film hat sich Rosemarie Trockel selbst gefangen genommen und verhört ihre Doppelgängerin mit der Frage: "Who is the best Artist?". Und es dauert lange, erzwungen durch körperliche und psychische Misshandlung, ehe die Befragte endlich antwortet: "Rosemarie Trockel".
Auf diesem schmalen Grad von Vorurteil, Selbstbeobachtung, gesellschaftlichem Wertmaßstab und trotziger Selbstbehauptung wandelt die Künstlerin seit vielen Jahrzehnten: schlafwandlerisch sicher und erfreulich humorvoll. Natürlich sind in Frankfurt viele ihrer Strickbilder mit dem Ornament des Wollsiegels zu sehen. Oder ihre Herdplattenreliefs, die sich über den zugemuteten Wirkungskreis weiblicher Kreativität mokieren. Zwei von ihnen sind mit einer Steckdose verbunden, die Platten werden heißt, beginnen zu glühen, erzeugen eine ganz neue Dimension "gefährlicher" Kunst. Im Laufe ihrer Karriere hat Rosemarie Trockel ein reichhaltiges Instrumentarium entwickelt, um gesellschaftliche Rollenzuweisungen zu unterlaufen und zu persiflieren.
Rosemarie Trockel, First Chlamydia, 1966/2017
Täter? Opfer?
"Es gibt eine Arbeit, die heißt 'Misleading Interpretation', da sieht man sie, ein Foto von ihr, ihre Augen sind aber mit einem schwarzen Balken überzogen, und ihre Nase blutet und ihre Haare sind ganz nass", sagt Susanne Pfeffer. Man frage sich: Ist sie gerade ein Opfer von Gewalt geworden oder ist sie selbst gewalttätig gewesen? Und sie glaube, darin liegt auch eine grundsätzliche Fragestellung von Rosemarie Trockel: dass sich das manchmal nicht unterscheiden lasse, wann sind wir Täter, wann sind wir Opfer?
Besonders eindrucksvoll sind große Wandreliefs aus Keramik. Sie wirken merkwürdig metallisch und erinnern tatsächlich an die Oberflächenstruktur von Gemüsereiben, an denen Frau sich so gern die Finger aufschneidet. "Das macht ihre sehr eigene Formsprache aus, dass sie immer wieder versucht, gegen den Mainstream zu gehen und ein Material einzusetzen, über das die Fachleute sagen: so geht es aber nicht", sagt Pfeffer.
Raum für Ambivalenzen
In Zeiten, in denen die Genderdebatte immer rigider wird, ist diese überaus reichhaltige Werkschau von Rosemarie Trockel beglückend liberal. Selbstverständlich kämpft die Künstlerin gegen die großen pathetischen Gesten der Künstler-Männerwelt, aber ihr Werk hat sich darin wahrhaftig nicht erschöpft.
Wenn man Ambivalenzen zulasse, so Susanne Pfeffer, könne man keinen Menschen allein aus dem Gender-Kontext betrachten. "Ein Mensch ist ja nicht nur Frau, nicht nur Mann, nicht nur Kind. Also, das ist bei ihr auch ganz wichtig. Ein Mensch ist auch immer ganz Vieles. Und man kann ihn auch ganz unterschiedlich sehen, wahrnehmen. Aber das auch zuzulassen, das ist ihr total wichtig".
Die großartig präsentierte Werkschau endet mit einem Glaskubus, in dem quadratisch zurechtgeschnittene Teile von Strickbildern übereinander geschichtet sind. Ironischer Querverweis auf das Pathos der Minimal Art, aber auch ein erleichtertes Abschiednehmen vom klischeehaften Ruf. Wenn man dann noch jene Vitrinen sieht, in denen Rosemarie Trockel Kunstformen der Natur feiert – Blätter, Samenkapseln, vertrocknete Blüten –, dann begreift man endgültig, dass diese Künstlerin die Augen weit geöffnet hält und immer neue Wege für ihre Inspiration zu finden weiß.
Die Ausstellung Rosemarie Trockel läuft bis 18. Juni 2023 im Museum für Moderne Kunst Frankfurt.
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