München in Trümmern. Jella Lepman kam als Journalistin aus dem Exil nach Deutschland. In München gründete sie die Internationale Jugendbibliothek, kurz IJB.
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München nach dem Zweiten Weltkrieg: Hier gründete Jella Lepman die Internationale Jugendbibliothek.

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"Gebt uns Bücher!" – Dokumentarfilm über Jella Lepman

Nach dem Zweiten Weltkrieg, zurückgekehrt aus dem Exil gründete die Journalistin Jella Lepman die Internationale Jugendbibliothek in München. Schriftsteller Andreas Steinhöfel erzählt in der Doku "Gebt uns Bücher! Gebt uns Flügel!" ihre Geschichte.

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"Gebt uns Bücher, gebt uns Flügel" lautet der sprechende Titel des Dokumentarfilms über Jella Lepman, der Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) in München, der gerade im Haus vorgestellt wurde. Geboren 1891 in Stuttgart und bereits in der Weimarer Republik als Journalistin tätig wurde Lepman mit ihren beiden Kindern von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben. Unmittelbar nach dem Kriegsende kehrte sie aus dem britischen Exil zurück. Im Vertrauen auf die junge Generation entwickelte Lepman die Idee einer Bibliothek für Kinder- und Jugendliche. Das Haus sollte ein Ort der Begegnung mit anderen Kulturen sein. "Und ein Ort der Herzensbildung", sagt Andreas Steinhöfel, einer der wichtigsten Kinder- und Jugendbuchautoren der Gegenwart, bekannt geworden unter anderem mit den Romanen über die Berliner Freunde Rico und Oskar.

Eine der großen Frauen des 20. Jahrhunderts

Andreas Steinhöfel ("Rico, Oskar und die Tieferschatten") wurde durch eine vor einigen Jahren erschienene Neuauflage von Jella Lepmans Buch "Die Kinderbuchbrücke" auf die Lebensgeschichte der Exilantin aufmerksam. Im Buch schildert sie ihre Rückkehr ins zerstörte Deutschland und ihr Bemühen um die vom Krieg versehrten Kinder und Jugendlichen. Sie würden, so ihre feste Überzeugung, inmitten einer Welt aus Schutt und Asche den Erwachsenen den Weg in die Zukunft zeigen. Steinhöfel fasste rasch den Entschluss, die Biographie in einem Dokumentarfilm zu beleuchten. Für ihn zählt Jella Lepman zu den bedeutenden Frauen des 20. Jahrhunderts. Sie zog später nach Zürich, initiierte die Gründung einer internationalen Organisation für Kinder- und Jugendbuchverlage und den renommierten Hans-Christian-Andersen-Preis.

"Das ist es, was mich am Anfang so gepackt hat", sagt Andreas Steinhöfel im BR-Interview. "Eine Frau, 1945, eine Jüdin, die vertrieben wurde aus Deutschland, die dann sagt: Okay, ich gehe dahin und schaue, ob ich etwas gerissen bekomme. Und das in einer patriarchalischen und militärischen, männlichen Welt. Da stellt sie sie sich hin und sagt: Ja, jetzt habe ich eine Idee, nun kommt mal in die Puschen!"

Engagiert mit "charmanter Gnadenlosigkeit"

Sie selbst ging voran, sammelte Geld für ihre Idee einer Bibliothek, nicht zuletzt bei der einstigen Frist Lady der USA, Eleanor Roosevelt. In den Büchern sah Jella Lepman ein Medium zur Verständigung, über alle Grenzen hinweg. Sie organisierte 1946 eine Ausstellung mit internationalen Kinderbüchern im Münchner Haus der Kunst. Und setzte dann alle möglichen Hebel in Bewegung, um den Büchern einen dauerhaften festen Ort, ein eigenes Haus zu geben. Im September 1949 wurde dann die IJB in der Münchner Kaulbachstraße eröffnet. Der Weg dorthin war weit und keineswegs einfach. Andreas Steinhöfel attestiert der Bibliotheksgründerin eine "charmante Gnadenlosigkeit".

"Diese Frau ist mir zu vergessen", erklärt der Schriftsteller und Regisseur. "Wir haben hier eine Frau, die Unglaubliches geleistet hat – aber in so einer kulturellen Nische, die es bis heute bleiben wird. Kinderliteratur, das ist ein Durchlauferhitzer. Das interessiert Eltern nur so lange, wie das Kind Kind ist. Und das interessiert das Kind nur so lange, wie es Kind ist. Und deshalb würde ich ihr das sehr wünschen: diese Anerkennung als wirklich starke Frau."

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Ein Leben für die Bücher: Jella Lepman an ihrem Schreibtisch

Filmische Annäherungen in Erzählungen

Seit 1983 hat die IJB ihren Sitz im Münchner Stadtteil Obermenzing, in Schloss Blutenburg. Der Ort spielt im Film "Gebt uns Bücher, gebt uns Flügel" (benannt nach einer gleichnamigen Autobiographie von Jella Lepman) eine wichtige Rolle für die Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte und der Vision von Lepman. Es gibt nur wenig dokumentarisches Material von Lepman selbst. Andreas Steinhöfel lässt verschiedene Menschen über sie erzählen, darunter ihre Enkelin, die Biographin Anna Becchi aus Italien, den Journalisten David Jacobson aus den USA, der sich mit Lepmans Leben beschäftigt. Es gibt folglich verschiedene Perspektiven mit Blick auf ihre Geschichte. Und immer wieder auch überraschende Passagen: zum Beispiel, dass Jella Lepman nicht wirklich einen persönlichen Draht zu Kindern hatte. Über allem stand die Bibliothek.

"Ich glaube schon, die war ein harter Knochen", so Andreas Steinhöfel. "Eine harte Verhandlerin. Was sie sich vorgenommen hat, das hat sie durchgeboxt. Es war nicht immer leicht, mit ihr zu verhandeln. Aber dessen ungeachtet: Ich würde ihr so wünschen, dass sie darin auch ein Glück gefunden hat, das sie spüren konnte. Sie saß nachher allein in Zürich! Ich würde es ihr so wünschen, dass sie glücklich war. Weil ich so großartig finde, was sie geleistet hat."

Fragen, die (noch) offen bleiben

Andreas Steinhöfel hat den Dokumentarfilm in Eigenregie produziert und auch finanziert. Er hat ihn jetzt in der IJB uraufgeführt und hofft auf einen Fernsehsender, der sich für die Dokumentation interessiert und sie zeigen würde. Im kommenden Jahr, am 14. September 2024, jährt sich die Eröffnung der Bibliothek zum 75. Mal. Steinhöfels dokumentarische Annäherung erinnert an eine besondere Frau. Gleichzeitig gibt sie – und das ist gut – kein abschließendes, erschöpfendes Bild. Für ihn bleiben etliche Fragen offen.

"Das war eine Frage, die ich im Film auch stelle: 'War sie denn glücklich, mit dem, was sie erreicht hat?' Sie äußert sich ja nicht. Sie äußert sich ja nicht dazu. So wortreich sie in der 'Kinderbuchbrücke' ihr Erleben schildert – sie sagt nie etwas zu ihren Gefühlen. Das fand ich absolut faszinierend. Sie hat ihre Kinder in England zurückgelassen, als sie 1945 nach Deutschland ging. Da kam nie ein Satz wie: 'Ich lag heulend im Bett, weil ich Sehnsucht nach meinen Kindern hatte'. Ich bin fest davon überzeugt, weil sie ein menschliches Herz hatte, dass sie auch mal heulend im Bett lag."

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Der Schriftsteller und Dokumentarfilmer Andreas Steinhöfel

Kultur als Herzensbildung

"Gebt uns Bücher, gebt uns Flügel" zeigt auch, wie modern Jella Lepman, gestorben 1970 in Zürich, dachte. Nicht nur, aber gerade eben auch über Bildung. Eine Bibliothek für Kinder und Jugendliche sollte nicht nur ein Haus sein, in dem man sich Bücher ausleihen kann. Sondern in dem Kinder und Jugendliche mit vielen Formen der Kunst in Berührung kommen, mit Malerei – etwa in Malzirkeln – ebenso mit Musik und Theater. Sie war von der Notwendigkeit einer ganzheitlichen und insbesondere kulturellen Bildung überzeugt.

Die Bücher von Andreas Steinhöfel – darunter die Romane über Rico und Oskar – erscheinen im Hamburger Carlsen-Verlag. Für das jüngste Buch "Völlig meschugge?!“"erhalten Andreas Steinhöfel und die Illustratorin Melanie Garanin heute Abend (25. Mai) den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis.

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