15.12.2022, Ukraine, Bachmut: Ukrainische Soldaten feuern eine Pion (M-1975)  Kanonenhaubitze auf russische Stellungen in der Nähe von Bachmut. Foto: Libkos/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Ukraine-Krieg - Bachmut

    Fünf wichtige Sachbücher aus dem Jahr 2022

    Essays zur Ukraine, eine Reportage über Afghanistan, eine neue Geschichte der USA: Die bewegte Gegenwart findet vielfach Widerhall in den Sachbuch-Programmen der deutschsprachigen Verlage. Ein Rückblick und einige Empfehlungen.

    Das ist keine Überraschung: Die ehemalige First Lady der Vereinigten Staaten, Michelle Obama, hat am Jahresende, von jetzt auf gleich, die first position auf der Sachbuch-Bestseller-Liste eingenommen, mit einer Reflexion über die Menschlichkeit und, das "Licht in uns" beschwörend, mit einer Ermutigung. Und auch ein berühmter Landsmann hat eines der vielbeachteten Sachbücher in diesem Jahr veröffentlicht: Bob Dylan grübelt über die "Philosophie des modernen Songs". Zugleich musste er eingestehen, dass er das Signieren der stinkteuren amerikanischen Luxus-Ausgabe einer Maschine überlassen hat.

    Schwerpunkt Geschichte

    Ansonsten ist die Geschichte ein großes Thema in diesem Jahr: Andrea Wulf erinnert in ihrem Buch "Die fabelhaften Rebellen" an die stürmischen Köpfe der frühen Romantik und ihre intensive Auseinandersetzung mit der Welt um 1800. Der Historiker Stephan Malinowski, der seit vielen Jahren zur Kollaboration der Hohenzollern-Familie mit den Nationalsozialisten forscht, wurde für seine große Studie zum Thema mit dem Deutschen Sachbuchpreis geehrt. Den Bayerischen Buchpreis erhielten die Historikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina für ihre Essay-Sammlung über wenig bekannte Erinnerungsorte des Zweiten Weltkriegs im Osten Europas. Und das sind weitere wichtige Sachbücher des Jahres 2022.

    Tanja Maljartschuk erzählt von der Ukraine

    Das Jahr 2022 ist mit einer tiefgehenden, welthistorischen Zäsur verbunden: Am 24. Februar begann der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, sein Ende ist im Augenblick noch nicht absehbar. Für die Menschen im Land stellt die militärische Eskalation indes leider nur eine Ausweitung eines länger bestehenden Konfliktes dar. Im Osten der Ukraine herrscht seit 2014 Krieg, von Anfang an werden die selbst ernannten Separatisten von Russland unterstützt. Auch daran erinnert Tanja Maljartschuk in ihrem Essay-Band "Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus" (Kiepenheuer und Witsch).

    Geboren in Iwano-Frankiwsk und seit 2013 in Wien lebend berichtet die Schriftstellerin und Publizistin vom Schicksal ihres Landes in Vergangenheit und Gegenwart. In oft persönlich grundierten Texten verwebt Tanja Maljartschuk die Geschichte des Landes mit der eigenen, der ihrer Familie. Aus einem Blick auf ein (einziges) Erbstück – eine Handtasche mit vergilbten Fotos – erwächst eine intensive Meditation über historische und aktuelle Realitäten. Zugleich zeigen die Essays in ihrer Gesamtheit, und damit auch als eine eindrückliche Chronik, dass Russlands imperiale, auf Destabilisierung zielende Politik in den vergangenen Jahren beständig unterschätzt und ignoriert wurde, gerade auch in Deutschland. Eines der wichtigen Bücher für die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Ukraine.

    Tanja Maljartschuk, Die Geschichte geht weiter, wir atmen nur aus. Essays, Kiepenheuer und Witsch, 174 S.

    Wolfgang Bauer berichtet aus Afghanistan

    Im vergangenen Jahr, 2021, scheiterte das ehrgeizige Projekt eines Neuaufbaus in Afghanistan – mit der Rückkehr der Taliban an die Macht und dem hilflos wirkenden Abzug der westlichen Verbündeten. Das Land, jahrzehntelang gezeichnet von militärischer Gewalt, von Krieg und Bürgerkrieg, hat im Augenblick einmal mehr keine Zukunft. Zudem verschwindet es spürbar aus dem öffentlichen Bewusstsein. Auch gegen dieses neuerliche Vergessen schreibt Wolfgang Bauer an, mit seinem Buch "Am Ende der Straße" (Suhrkamp).

    Der Reporter, der für die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" berichtet, war vielfach in Afghanistan unterwegs, er gehört in Deutschland zu den besten Kennern des Landes. In seinem Buch, einer langen Reportage, erzählt er von den Begegnungen auf einer Reise im Herbst 2021 entlang der Ring Road – einer über 2000 Kilometer Straße, die die großen Städte Afghanistans und mit ihnen die verschiedenen Provinzen miteinander verbindet. Vor Jahrzehnten geplant und bis heute nicht fertig gestellt wird das Verkehrsprojekt zu einem Sinnbild für das Land, für seine fragile Situation zwischen Hoffnung und Scheitern. Wolfgang Bauer berichtet ausführlich von den Menschen, denen er unterwegs begegnete, darunter auch die neuen alten Machthaber. Ebenso plädiert er eindringlich für eine Neugestaltung der internationalen Hilfe. Vor allem aber ruft er dazu auf, Afghanistan nicht sich selbst zu überlassen. Alles andere wäre fatal.

    Wolfgang Bauer, Am Ende der Straße. Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern. Reportage, Suhrkamp, 399 S.

    Nikole Hannah-Jones plädiert für eine neue Geschichte der USA

    Gemeinhin gilt der 4. Juli 1776 – die Veröffentlichung der Unabhängigkeitserklärung der englischen Kolonien in Nordamerika – als Geburtstag der Vereinigten Staaten. Der junge Staatenbund wollte ein Reich der Freiheit sein und war doch ebenso eines der Unfreiheit – für Millionen Sklaven aus Afrika. Daran erinnern einmal mehr die amerikanische Publizistin Nikole Hannah-Jones und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter mit dem großen Buch "1619" (Karl Blessing).

    Zusammen mit den vielen Autorinnen und Autoren entwirft die amerikanische Publizistin eine neue Geschichte der USA, beginnend mit der Ankunft der ersten Sklaven. Im August 1619 brachte die "White Lion" die ersten der Freiheit beraubten Menschen in die neue Welt, der Beginn einer Geschichte von brutaler Ausbeutung, Rassismus und Gewalt. Diese wird – und das ist das Besondere am Buchprojekt von Nikole Hannah-Jones – in einem vielstimmigen Chor erzählt, in wissenschaftlichen Essays, ebenso in literarischen Texten, verfasst unter anderem von Jason Reynolds, einem der wichtigen US-amerikanischen Jugendbuchautoren. Neben der Neuvermessung der Geschichte der Vereinigten Staaten ist das historische Projekt auch mit einer klaren politischen Forderung verbunden. Die Nachkommen der Sklaven sollten für die bis heute andauernde systematische Benachteiligung entschädigt werden.

    Nikole Hannah-Jones, Caitlin Roper, Ilena Silverman, Jake Silverstein (Hg.), 1619. Eine neue Geschichte der USA. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, Furat Abdulle und vielen anderen, Karl Blessing, 815 S.

    Michael Wildt ergründet die Epoche zwischen 1918 und 1945

    An Darstellungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts – und insbesondere der dramatischen ersten Jahrhunderthälfte – herrscht kein Mangel. Insofern ist jeder Versuch einer Neuvermessung ambitioniert – und läuft Gefahr, Bekanntes allenfalls zu reproduzieren (und zu langweilen). Genau das hat der Historiker Michael Wildt klug umgangen. Sein Buch "Zerborstene Zeit" (C.H. Beck) eröffnet tatsächlich neue Perspektiven auf die Epoche zwischen 1918 und 1945.

    Das liegt einerseits an der Erzählweise. Auf Grundlage einer langen Beschäftigung mit der modernen Geschichte blickt Wildt auf die deutsche Gesellschaft. Der Historiker folgt Tagebuchschreibern durch die Zeit, bekannten wie Oskar Maria Graf oder Victor Klemperer, ebenso wenig bekannten wie der Hamburger Lehrerin Luise Solmitz. Ihre Beobachtungen und Erfahrungen fließen beständig in die Darstellung ein. Ebenso erzählt Michael Wildt in Fragmenten und Schlaglichtern – denn er will, wie die Metapher im Titel nahe legen kann, gerade keine große und allumfassende Geschichte konstruieren. Schließlich nimmt er schreibend Dinge in den Blick, die bislang keinen Widerhall in der historischen Forschung gefunden haben. Darunter, ausgehend von einem Auftritt Josephine Bakers in Berlin, die Geschichte der People of Color in der Weimarer Republik. Für sein Buch wurde Michael Wildt im November mit dem Preis des Historischen Kollegs ausgezeichnet.

    Michael Wildt, Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918-1945, C.H. Beck, 638 S.

    Heiko Werning und Ulrike Sterblich lassen Tiere auferstehen

    Das klingt erst einmal drollig: da die Bayerische Kurzohrmaus, dort eine Mallorca-Geburtshelferkröte, da schließlich – was bitte ist das jetzt? – ein Schnilch. Doch das Tierleben, das Heiko Werning und Ulrike Sterblich geschrieben haben, ist aber alles andere als komisch. Ihr Buch "Opkapi, Scharnierschildkröte und Schnilch. Ein prekäres Bestiarium" (Galiani) erzählt von aussterbenden Tierarten.

    In kurzen, launigen Texten werden knapp 50 ausgestorbene bzw. vom Aussterben bedrohte Tiere – die "Bestien" – beschrieben, vom Beutelwolf (dem Tasmanischen Tiger) bis zur Zhous Scharnierschildkröte, einer der der weltweit besonders gefährdeten Arten. Über die Bayerische Kurzohrmaus – Microtus bavaricus – heißt es beispielsweise, sie habe mehrere Probleme. Das erste: In dem Gebiet, auf dem die Nagetiere in den frühen 1960er Jahren zum ersten Mal gesichtet worden sind, wurde später das Klinikum Garmisch-Partenkirchen gebaut. Seitdem sind die Kurzohrmäuse dort verschwunden, in Österreich und auch in Kroatien wurden einzelne Tiere entdeckt. Ansonsten gilt hier: viele Rätsel.

    Heiko Werning und Ulrike Sterblich werben mit ihren Essays auch für die "Citizen Conservation", für Zuchtprogramme zur Erhaltung, getragen von Zoologischen Gärten, Schauaquarien und engagierten privaten Tierhaltern. Und dort ist sehr viel zu tun. Rund eine Million Arten (Tiere wie Pflanzen) gelten mittlerweile als gefährdet. Wie es dabei um den wenig bekannten Schnilch steht, lese eine jede und ein jeder selber.

    Heiko Werning und Ulrike Sterblich, Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch. Ein prekäres Bestiarium, Galiani, 240 S.

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