Da steht er im strahlend weißen Zweireiher, darunter ein Hawaiihemd. Er trägt eine dunkle Sonnenbrille und verfolgt den rituellen Tanz einer Gruppe indigener Inselbewohner. Bisweilen schüttelt er die linke Faust im Rhythmus der treibenden Trommelschläge, beobachtet dann aufmerksam den parallel stattfindenden Kampf zweier Hähne, ahmt mit seinen Händen den Flügelschlag der Tiere nach, als wüsste er, wer gewinnen wird.
Er heißt Monsieur de Roller. Er ist ein französischer Staatsdiener auf Tahiti, genauer: der "Hochkommissar der französischen Republik". Er schimpft auf die Regierung in Paris, geriert sich selbst wie ein aus der Zeit gefallener Kolonialbeamter. De Roller ist ein etwas verlebt wirkender Mann um die 50, der sich in der eigenen Rolle gefällt: als Menschenversteher, der mit jeder und jedem plaudert; gerne tut er so, als würde er Geheimisse verraten und hätte die Zügel in der Hand.
Dabei ist schnell klar: Monsieur De Roller ist eine Marionette, ein Maulheld – und damit kein ernstzunehmendes Gegenüber. Als ihn eine Abordnung der indigenen Bevölkerung Tahitis mit Gerüchten konfrontiert, Frankreich wolle die Atomtests wiederaufnehmen, wiegelt er ab und versucht zu beruhigen: Davon wisse er nichts!
Farben und Motive erinnern an die Gemälde Paul Gauguins
Als hypnotisch, delirierend und fiebernd wurde "Pacifiction" nach seiner Premiere letztes Jahr in Cannes gelabelt, was nicht falsch ist, aber vor allem die visuelle Magie beschreibt, die Kameramann Artur Tort entwickelt: grandiose Sonnenuntergänge, das wogende Meer, luxuriöse Villen direkt am Strand, nächtliche Bootsfahrten, scherenschnittartige Palmen vor leuchtenden Wolkenwänden.
Neben diesen faszinierenden Tableaus, die bisweilen in ihren Farben und Motiven an die Gemälde Paul Gauguins erinnern, ist "Pacifiction" aber vor allem ein politischer Thriller, der vor exotischer Natur spielt. Kulisse und Realität widersprechen sich gewissermaßen.
Monsieur de Roller (Benoît Magimel) auf dem Balkon.
Eine ähnliche Erfahrung hatte auch schon der französische Maler gemacht, der sich 1891 nach Tahiti einschiffte: In Gauguins Vorstellung war die Insel ein Arkadien. Als er dort landete, musste er jedoch feststellen, dass Wirklichkeit und Erwartung nicht zusammenpassten. Durch Christianisierung, wirtschaftliche Interessen und Kolonialherrschaft war das "exotische Paradies", sofern es je existiert hatte, verschwunden. Die einheimische Bevölkerung vegetierte in ärmlichen Hütten, die weißen Siedler lebten in Saus und Braus.
Gauguin malte auf seinen Bildern nicht das Tahiti, das er erlebte, sondern jenes, das er sich erträumt hatte. Anders macht es jetzt Regisseur Albert Serra: Schon der Titel "Pacifiction" legt nahe, dass es das Paradies nicht gibt. Der Regisseur zeigt, wie das Idyll bestimmt wird von geopolitischen Zielen und politischer Ranküne.
Ein unheilvolles Szenarium der Desinformation und Willkür
Tatsächlich hatte Präsident Jacques Chirac 1995 die Wiederaufnahme der französischen Kernwaffenversuche angeordnet und am 5. September detonierte die erste Bombe einer neuen Testserie. In Tahitis Hauptstadt Papeete kam es damals zu Unruhen. Bis heute ist das nahe Mururoa-Atoll ein Sperrgebiet. In rund 140 Bohrschächten lagern große Mengen radioaktiven Abfalls, teilweise ungeschützt. Vor diesem Hintergrund entwickelt Albert Serra seine beunruhigende, zeitlich nicht genau definierte Phantasie: Was, wenn doch wieder getestet würde?
Das dreistündige Drama entwickelt ein unheilvolles Szenarium der Desinformation und Willkür. Die Inselwelt strahlt in fast schon übernatürlichen Farben. Kündigt sich so die Apokalypse an? Monsieur de Roller verliert mehr und mehr die Bodenhaftung. Der Film lässt bewusst Leerstellen, lebt von Andeutungen und schafft die Atmosphäre eines nicht fassbaren Unbehagens. Bei den Zuschauern stellt sich das Gefühl ein, man würde einem abgründigen Albtraum folgen. Der erschafft einen Sog, dem man sich im Kino bald nicht mehr entziehen kann und will. Das Ende bleibt offen.
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