Eine originelle Grafik hat sich das außenpolitische Fachblatt "Foreign Affairs" da einfallen lassen: Sie zeigt, wie sehr die befragten Experten mit der Aussage übereinstimmen, dass Putins Angriffskrieg letztlich mit einer Verhandlungslösung enden wird, bei der die Ukraine "territoriale Zugeständnisse" machen muss. Nur wenige Politikwissenschaftler sind sehr davon überzeugt, einige äußerten sich unentschlossen, die meisten jedoch widersprachen dem Statement deutlich - und waren in ihrem Urteil nicht mal unsicher.
Je länger der Krieg andauere, desto größer werde die Verbissenheit auf beiden Seiten, urteilen manche Beobachter, deshalb werde es nicht gerade wahrscheinlicher, dass die Ukraine sich mit Gebietsverlusten abfinden werde. Im "Atlantic" verwies Lawrence Freedman vom Londoner King´s College obendrein darauf, dass es die Ukraine sei, die ihre Kriegsziele bestimme, nicht der Westen insgesamt.
"Künstlich herbeigeführte Pattsituation"
Andrej Kolesnikow von der Carnegie Stiftung schrieb in "Foreign Affairs": "Putin hat die Möglichkeit von Friedensgesprächen blockiert, indem er Teile von Saporischschja und der Region Cherson annektiert hat. Und da er das bewusst getan hat, bedeutet das, dass er keine Verhandlungen will. Damit und mit dem Raketenkrieg hat er auch die Position der Ukraine unnachgiebig gemacht, die keine Zwischenlösungen oder einen fragilen Waffenstillstand will, sondern eine klare Niederlage Putins. Das ist eine von Putin künstlich herbeigeführte Pattsituation, aus der es noch keinen Ausweg gibt."
Der prominente Autor Timothy Snyder von der Yale Universität nannte den Krieg für Russland eine "strategische Katastrophe". Die Ukraine werde wohl gewinnen, allerdings gebe es viel Unsicherheit: "Wenn uns dieser Krieg an irgendetwas erinnert hat, dann daran, dass Menschen, die sich selbst als Experten betrachten, angesichts der Unvorhersehbarkeit des Krieges demütig und respektvoll gegenüber der Handlungsfähigkeit derer sein müssen, die versuchen, sich zu verteidigen."
"Russland könnte das wahre Opfer sein"
Timothy Frie von der Columbia University nannte es eine "Herausforderung" für die Ukraine, wieder die Souveränität über die Krim herzustellen. Auch er sagt: "Wie so oft in diesem Krieg werden wir wahrscheinlich überrascht sein, wie er endet." Thomas Graham von der US-Denkfabrik Council on Foreign Relations traut sich weiter vor: "Insbesondere die Krim wird mit ziemlicher Sicherheit in russischer Hand bleiben. Darüber hinaus bezweifle ich, dass die Rückgewinnung des gesamten von Russland beschlagnahmten Landes tatsächlich im eigenen langfristigen Interesse der Ukraine liegt. Die Kosten für die Wiedereingliederung der 2014 effektiv von Russland besetzten Donbass-Regionen und der Krim werden unglaublich hoch sein."
Tatjana Stanowaja von der Carnegie Stiftung hofft auf innerrussische Veränderungen: "Wir wissen nicht, wie und wann sich Russland ändern wird, aber wir können einen Aufstieg von 'Realisten' selbst im konservativen Lager der Kriegsbefürworter beobachten, die Russland drängen, den Konflikt einzufrieren." Ähnlich sieht es Agnia Grigas vom Atlantic Council: "Während die Kosten des Krieges für Moskau weiter steigen, wird das Unzufriedenheit in verschiedenen Teilen der Gesellschaft hervorrufen und die Kontinuität des derzeitigen Regimes in Frage stellen. Die Zersplitterung der Russischen Föderation wird zu einem echten Risiko, und Russland könnte das wahre Opfer dieses Krieges sein."
"Realität kann durchaus anders sein"
Mit typisch britischem Realismus schreibt Hubertus Jahn von der Universität Cambridge: "Russland darf keinen Präzedenzfall für künftige Landnahmen schaffen. Aber die Realität kann durchaus anders aussehen." Michail Alexejew von der Universität in San Diego hält den "Zusammenbruch" von Putins Regime für unwahrscheinlich, rechnet jedoch mit einem klaren Kriegsausgang: "Der Krieg hat zu lange gedauert, er war zu zerstörerisch, und die Einsätze auf beiden Seiten sind zu hoch, als dass irgendein Mittelweg erreicht werden könnte. Das Ergebnis ist höchstwahrscheinlich alles oder nichts."
Aufschlussreich ist die Sichtweise des russischen Armeechefs Waleri Gerassimow auf den Kriegsverlauf. Er gibt sogut wie nie Interviews, hat jetzt allerdings dem Portal "Argumenti y Fakti" ein paar Worte gesagt. Demnach ist es Aufgabe der Armee, die "militärische Sicherheit des Landes auf der Grundlage bestehender militärischer Bedrohungen" zu gewährleisten und die "vom Oberbefehlshaber festgelegten Ziele" zu erreichen. Welche das sind, dazu schwieg Gerassimow wohlweislich. In den Blogs russischer Nationalisten wird vielfach beklagt, dass Moskau gar keine konkreten Ziele habe, bzw. ständig neue ausgebe.
"Es wird sehr schwierig sein"
Seit der Angriff auf die Ukraine von russischen Politikern mit dem Zweiten Weltkrieg verglichen wird, wird ein möglicher "Sieg" immer radikaler und umfassender definiert. Ex-Präsident Dmitri Medwedew zum Beispiel schrieb, der "neue vaterländische Krieg" werde gewonnen wie 1812 und 1945, als Russland über Napoleon und Hitler triumphierte. Das lässt erahnen, dass sich Moskau nach einer "bedingungslosen Kapitulation" der Ukraine sehnt. Aber sogar der rhetorische Extremist Medwedew warnte vorbeugend vor "Illusionen" und schränkte ein: "Es wird sehr schwierig sein."
Russische Blogger beklagen die Gleichgültigkeit der Gesellschaft: Zwar seien die meisten Russen für den "Sieg", allerdings "nur als Zuschauer", nicht als Teilnehmer an der Front. Es gebe einen "absoluten Unwillen" bei der Masse der Bevölkerung, "ernsthaft etwas in ihrem Leben zu ändern". Viele hätten "Angst vor dem Sieg und hofften auf die Niederlage", so der Nationalist Tschadajew, weil sich diese Leute dreißig Jahre lang am Westen orientiert hätten. Alles, was seit Kriegsausbruch passiert sei, betrachteten die Nutznießer des Wohlstands als "persönliche Katastrophe".
Der Wirtschaftsfachmann und Gründer der liberalen russischen Oppositionspartei Jabloko, Grigori Jawlinski, spottete unterdessen in einem Interview über die Allmachtsfantasien von Putin und die dauernden Anspielungen auf die Schlacht um Berlin 1945: "Welche Art von Sieg kann es geben? Es gibt die Vorstellung, dass Kiew kapituliert, dass es Gebiete aufgeben wird, dass der Westen destabilisiert wird. Inwieweit ist das realistisch? Unter den aktuellen Umständen glaube ich nicht daran." Er nannte die Gegenwart die "dunkelste Zeit seines Lebens" und zog das Fazit: "Alle wollen in diesem Konflikt etwas erreichen, aber ihn nicht beenden. So ist der Konsens. Niemand will aufhören. Seien Sie auf alles vorbereitet. Es gibt einfach keine Grenze. Es kann alles passieren."
Erinnerung an "Sitzkrieg" von 1940
Um historische Parallelen sind russische Ultrapatrioten jedenfalls nicht verlegen: Im populistischen rechtsextremen Portal "Tsargrad" verglich Sergej Latyschew die derzeitige Lage in der Ukraine mit dem "Sitzkrieg" von 1939/40, als Frankreich und Großbritannien Hitler wegen des Überfalls auf Polen zwar den Krieg erklärt hatten, jedoch nicht wagten, anzugreifen: Ähnlich verhalte sich der Westen jetzt bei seinem "seltsamen Krieg" (frz. Drôle de guerre) gegen Russland. "Sie ließen nicht zu, wollten sich den Gedanken nicht eingestehen, dass sie ganz am Anfang eines gigantischen Weltkonflikts standen, der zu weit fortgeschritten war, um ihn noch aufzuhalten", so Latyschew über das Verhalten des Westens im "Sitzkrieg". Das wiederhole sich derzeit. Allerdings werde Russland diesmal außer Belarus "niemand besonders helfen".
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