Diskussion im EU-Parlament  (Symbolbild)
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Diskussion im EU-Parlament (Symbolbild)

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"Europa, wo bist du?" Ein Reporter macht sich auf die Suche

Vier Monate ist der Journalist Alex Rühle in diesem Jahr durch Europa gereist: Kreuz und quer mit Bahn, Bus, Schiff und auch Flugzeug. Was er auf seiner Suche nach der europäischen Identität und Idee fand, erzählt er in "Europa, wo bist Du".

Die EU steckt derzeit zum wiederholten Mal tief in der Krise. Korruptionsvorwürfe gegenüber führenden EU-Politikerinnen wie Eva Kaili erschüttern sie. Das gibt EU-Skeptikern, ja: EU-Zynikern, Aufwind.

Alex Rühle, Skandinavien-Korrespondent der SZ, zählt nicht zu ihnen. "Also Zynismus war mir immer fremd, aber man wird natürlich manchmal zum EU-Verzweifler, weil ich glaube, wir haben nichts anderes. Und gleichzeitig ist dieses Floß, mit dem wir auf dem Globus dahintreiben – wir kleinen Europäer – einfach in einem furchtbar schlechten Zustand. Und da kann man dann eher verzweifeln als zynisch werden – mir geht das eher so", sagt der Journalist.

Rühle: Europa "siecht dahin" und ist gleichzeitig größte Erfindung der Politik-Geschichte

Rühle ist in diesem März einfach losgefahren, vier Monate unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent, der schon Hans Magnus Enzensberger 1987 den Seufzer "Ach Europa!" ausstoßen ließ. Vieles hat sich seitdem geändert durch die Revolutionen in Ost- und Mitteluropa 1989, aber der Stoßseufzer ist aktuell wie nie. "Es ist die größte Erfindung der Politik-Geschichte meines Erachtens, und es siecht dahin wie ein sklerotischer Greis gleichzeitig – und dieses Zugleich wollte ich einfangen."

Das gelingt dem Reporter Rühle sehr gut. In Athen startet er, und seine Reise führt ihn dann über viele Stationen wie z.B. Sarajewo, Lissabon, Aarhus und viele andere Städte bis nach Sofia. Er trifft in Brüssel und Straßburg alte EU-Hasen und junge EU-Parlamentarier, engagierte Bürgermeisterinnen im Baltikum und standhafte Journalisten in Ungarn.

Der 53-Jährige nutzt zwar gelegentlich auch Busse und einmal sogar das Flugzeug, zumeist jedoch ist er mit dem Zug unterwegs. "Also Interrail ist ja mal eine wahnsinnig tolle Erfindung, eine wahnsinnig tolle europäische Erfindung, und ich hatte ekstatische Reisetage, egal ob in Kalabrien oder in Finnland im Mitsommernachtslicht oder auf der Busfahrt von Portugal nach Spanien. Ich war immer wieder so überwältigt von der Schönheit – auch dieser kleinteiligen Schönheit, dass du nach 300 Kilometern in eine völlig neue Sprache und Kultur kommst, wo hast du denn das? Also, ich würde jedem sagen: Losfahren! Sofort alles stehen und liegen lassen und quer durch Europa fahren", sagt Rühle im BR-Interview.

Eine Chimäre: die mantrahaft beschworenen Werte der EU

Die mantrahaft beschworenen "gemeinsamen europäischen Werte" hält auch Rühle für "eine Art Chimäre" – und mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse ist er sich einig, dass die Floskel vom "Narrativ", das Europa benötige, eben nur das ist: eine Phrase. Die gesamte Reise, die dieses Buch nachzeichnet, war überschattet von der russischen Invasion in die Ukraine. Rühle ist der Meinung, dass dieser Krieg Putins Europa hat stärker zusammenwachsen lassen.

Es habe noch nie eine solche Einigkeit und Einheit wie nach diesem 24. Februar gegeben. "Da war Europa plötzlich mal mal sowas von geeint und hat gesagt: Diesmal müssen wir zusammenhalten. Es wird spannend sein zu sehen im Winter, wie und ob das auseinanderfällt. Es gibt natürlich Orbán, der quertreibt mit seinem zynischen Pokerspiel. Und es gibt einige andere Länder, bei denen man nicht sicher ist, ob sie noch weiter mitziehen. Aber sonst war das schon ein ziemlich europäischer Moment."

"Europa, wo bist du? Unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent" von Alex Rühle ist bei dtv erschienen für 25 Euro.

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