Namen von ukrainischen Städten
Bildrechte: Michaela Rihova/Picture Alliance

Demo in Tschechien: Demonstranten halten Kreuze in die Höhe

    "Es gibt Chancen": Russlands Medien mutmaßen über Verhandlungen

    Zwischen nationalistischen "Hassgesängen" und martialischen Durchhalteparolen finden sich immer häufiger Appelle, endlich miteinander zu reden. Auch kremlnahe Fachleute sagen vorsichtig: "Hoffen wir, das die Gelegenheit nicht verpasst wird."

    Alles komme auf eine gute "Vorbereitung" an, dann sei ein Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem US-Kollegen Joe Biden denkbar, so der bestens vernetzte Experte und Diplomat Andrej Kortunow in einem Gespräch mit der "Prawda": "Es ist klar, dass das dringendste Problem darin besteht, die Eskalation der Krise auf die nukleare Ebene zu verhindern. Wenn darüber Verständigung erreicht werden kann, wird es möglich sein, zu anderen Themen überzugehen, einschließlich der Probleme der Lösung der Ukraine-Krise. Mir scheint, dass sehr wenig Zeit bleibt. Aber dennoch gibt es Chancen. Hoffen wir, dass sie nicht verpasst werden."

    Russland "auf Verhandlungen konzentriert"?

    Nun ist Kortunow von jeher kein Nationalist, sondern ein eher besonnener Wortführer der russischen Politik-Experten. Er leitet den Russian Council, eine Art Lobbyverein der Diplomaten, und hat von daher ein dringendes Interesse an einer Entspannung der internationalen Lage.

    Aber auch der Analyst Oleg Nemenski lässt sich mit eher zurückhaltenden Bemerkungen zitieren: "Ich denke, dass Russland sich auf Verhandlungen konzentriert. Aber es ist sich darüber im Klaren, dass es sinnlos ist, mit den derzeitigen ukrainischen Behörden zu verhandeln. Erstens sind sie nicht unabhängig in ihren Entscheidungen, da sie von westlichen Gönnern kontrolliert werden. Zweitens sind sie sehr abhängig von internen radikalen politischen und militärischen Kräften."

    "Kreml sondiert Boden für Einigung"

    Außenminister Sergej Lawrow hatte der "Komsomolskaja Prawda" in einem Interview gesagt: "Ernsthafte Kontaktvorschläge haben wir nicht erhalten. Es gab einige nicht sehr ernsthafte Anrufe, auf die wir auch nicht negativ reagierten und anboten, konkrete Vorschläge zu formulieren, mit denen uns einige Leute über indirekte Kontakte hätten erreichen können. In diesem Fall haben wir keine konkreten Klarstellungen erhalten. Du sollst nicht lügen. Lügen ist schlecht."

    Die auf einen gewissen Abstand zum Kreml bedachte "Nesawissimaja Gaseta" titelte trotzdem: "Der Kreml sondiert den Boden für eine Einigung mit dem Westen. Es gibt Anzeichen für den wahrscheinlichen Beginn von Friedensgesprächen über die Ukraine." Grund dafür: Ein geplantes Treffen zwischen Putin und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan am Donnerstag im kasachischen Astana: "Beide Regierungschefs planen unter anderem, die Idee des türkischen Präsidenten von einem großen Abkommen zwischen der Russischen Föderation einerseits und den die Ukraine unterstützenden Staaten – den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland und Frankreich – andererseits zu erörtern."

    Alexej Moschkow, eigentlich ein "forscher" Putin-Parteigänger und Politologe, kommt in seinem neuesten Essay zum Fazit, dass zwar derzeit alles nach weiteren Aggressionen aussehe, dieser Eindruck jedoch täuschen könne: "Wie so oft in der Politik ist die Realität möglicherweise nicht so, wie sie scheint." Moschkow lässt keinen Zweifel daran, dass die "Spezialoperation" des Kreml aus dem Ruder gelaufen ist und die neuesten "Vergeltungsschläge" nicht Teil des ursprünglichen Plans waren. Allerdings habe "Russland immer noch ein gewisses Gewicht" und könne dem Westen "großen Ärger machen". Das klingt bedrohlich, ist aber offenbar als hinter schroffen Formulierungen verborgenes Verständigungsangebot gemeint.

    "Gesellschaft verliert Vertrauen in Uniformen"

    Der Kreml habe mit seinen Atomwaffen etwas, "um sich mit westlichen Akteuren an den Verhandlungstisch zu setzen", argumentiert Moschkow etwas verquer: "Daher ist die Wahrscheinlichkeit dieser neuen Verhandlungen mit der Verwirklichung eines neuen 'großen Deals' ziemlich hoch. Denn nur so kann offenbar der langwierige 'Ukrainekonflikt' schnell gelöst werden."

    Der Politologe warnt vor einem "zweiten Afghanistan" und einem "großen Konflikt" zwischen Russland und dem Westen insgesamt, wobei unausgesprochen bleibt, dass niemand in Moskau ernsthaft damit rechnet, dass Putin dabei "gewinnen" könnte. Angesichts dieser Lage werden Donald Trump und Elon Musk genannt, die doch Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine angeregt hätten, wie auch der frühere US-Stabschef Mark Mullen.

    "Das Ausmaß der Verwirrung verwandelt sich allmählich insgeheim in eine massive Ablehnung des arroganten Spiels der Militärs", kommentiert der Chefkolumnist des russischen "News"-Portals sehr düster und bezieht sich damit auf die neuerdings viel kritisierten "Lügen", die innerhalb der Gesellschaft auf allen Ebenen üblich gewesen seien: "Aufgrund des Wunsches, die Realität zu verschönern, sind wir im Informationskrieg unterlegen. Und vor allem verliert die Gesellschaft das Vertrauen in jegliche Informationen von Menschen in Uniform."

    "Putin zog sich aus Ukraine zurück"

    In der in Ausland veröffentlichten "Moscow Times" vertritt Kolumnist Kirill Kharatian die sehr anfechtbare Meinung, Putin habe sich innerlich längst mit der Niederlage abgefunden und arbeite jetzt an seinem politischen Überleben. Deshalb habe er den Oberbefehlshaber an der Ukraine-Front ausgewechselt: "Putin möchte nur und ausschließlich mit dem Sieg in Verbindung gebracht werden; bis vor kurzem war die unorganisierte Führung der ukrainischen Militäroperation kopflos, gerade weil es noch Hoffnung gab, die sogenannten Invasionsziele zu erreichen, wer weiß welchen Plan zu erfüllen, nach dem alles gehen sollte, obwohl niemand wusste wohin. Jetzt werden alle vergangenen Sünden, alle Misserfolge und alle zukünftigen Rückzüge, Verluste und Niederlagen [dem neu ernannten] General Surowikin zugeschrieben. Alles, was von nun an in den besetzten Gebieten passiert, ist seine Verantwortung und nicht die des Oberbefehlshabers. Wladimir Putin zog sich aus der Ukraine zurück."

    Ähnlich sieht es der im Ausland lebende Experte Juri Fjodorow mit Blick auf Putins neuesten "Rachefeldzug": "Nicht nur dieser Raketenangriff spricht von Instabilität in der russischen Elite, sondern die Situation selbst. Schließlich hat Russland den Krieg gegen die Ukraine tatsächlich verloren. Es stellt sich die Frage: Wer ist schuld? Putin will keine Verantwortung übernehmen. Obwohl er diesen Krieg entfesselt hat, ist er für die Niederlage verantwortlich. Schuld bleibt der Generalstab."

    Ein verlorener Krieg bedeute, dass die "Existenz des Regimes früher oder später in Frage gestellt" werde: "Hier sind sie, die Vertreter der politischen und militärischen Führung, und zucken [mit den Schultern], sie wollen nach der Kapitulation ihren Platz im Machtgefüge finden. Und Russland wird gezwungen sein zu kapitulieren, weil es nicht über die Mittel verfügt, um nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die gesamte zivilisierte Welt zu kämpfen."

    "Was sind die Alternativen?"

    Iwan Safrantschuk vom russischen Fachmagazin "Global Affairs" hat eine vage Vorstellung davon, dass Russland es nicht schaffen wird, gegen die Militärmacht der USA zu bestehen, spricht sich und seinen Lesern aber dennoch Mut zu: "Die Vereinigten Staaten aus dem Spiel zu nehmen, mag unerreichbar erscheinen und daher eine falsche Grundannahme für die praktische Zielsetzung sein. Aber was sind die Alternativen? Entweder der nicht mehr wahrscheinliche Druck auf Washington, um gleichberechtigte Vereinbarungen zu erzielen, oder eine unausgesprochene Zustimmung zum Kompromiss mit einem Rückzug hinter die eigenen 'roten Linien'." Letzteres würde nichts anderes bedeuten, als dass Putin von seinen hochtrabenden Versprechen abrücken müsste, die besetzten Gebiete "nie wieder" aufzugeben.

    "Europa wird zur Vernunft kommen"

    Im selben viel gelesenen Portal hatte der Politologe Valery Bessel von der russischen Staatsuniversität für Öl- und Gaswirtschaft kürzlich gesagt: "Ich würde sagen, es braucht Zeit, man muss warten. Wir alle waren schon einmal in einem hysterischen Zustand, und ein solcher Zustand entsteht auch in der Gesellschaft. Man muss nur eine bestimmte Krise überstehen, um herauszukommen. Ich denke, wenn Europa diesen Winter überlebt (und es wird für die Europäer sehr schwierig sein, ihn zu durchleben), wird es ein wenig zur Vernunft kommen und verstehen, dass es nötig ist, zu verhandeln."

    Geht es nach dem Kreml, wären Verhandlungen direkt mit der EU und den Vereinigten Staaten ohne Beteiligung der Ukraine am dienlichsten, möglicherweise vermittelt durch die Türkei. Doch Putins Wunschszenario wird so wohl kaum eintreffen. Unterdessen steht Russland in der UNO immer isolierter da, und die höherwertige Munition geht nach Meinung nicht weniger Militärbeobachter auch zur Neige, so dass der Einigungsdruck wächst, unabhängig von der Mobilisierung.

    Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!