Das war nicht zu übersehen: Beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) in Samarkand musste der russische Präsident Wladimir Putin mehrmals warten, wenn auch nur für wenige Sekunden. Offenbar wollten ihm Kollegen wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kleine Nadelstiche versetzen, war Putin doch bisher seinerseits bekannt für seine Psycho-Tricks mit Gästen, wozu neben der erzwungenen Warterei auch der Einsatz eines größeren Hundes gehörte. Und um eine Revanche ist er immer noch nicht verlegen: So nannte er Erdoğan in Samarkand prompt „Ministerpräsident“.
Den Namen des kasachischen Präsidenten Qassym-Schomart Tokajew spricht Putin seit längerem und wohl mit voller Absicht falsch aus, um ihn wegen dessen Annäherungsversuchen an die USA auf sublime Art zu ärgern. Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Putins Position zu wackeln beginnt – was inzwischen auch russische Medien offen zum Thema machen und zur Debatte unter Politologen führt.
"Widersprüche innerhalb der russischen Elite"
In einem aufsehenerregenden Leitartikel der „Nesawissimaja Gaseta“ heißt es, Putin stehe „unter Druck“. Vermeintliche „Verbündete“ wie China und Indien hätten inzwischen erhebliche „Bedenken“ angemeldet, was den Kriegsverlauf betreffe, „chauvinistische Patrioten“ machten nach den jüngsten Niederlagen Druck von rechts und drängten auf eine Mobilisierung. Es gebe „Widersprüche innerhalb der russischen Elite“, einzelne Gouverneure setzten, angefeuert vom tschetschenischen Scharfmacher Ramsan Kadyrow, bereits auf „Selbstmobilisierung“, also Freiwillige, so dass dem Kreml das Geschehen im Lande zu entgleiten drohe: „Wladimir Putin ist sich dieser Risiken natürlich bewusst. Er ist zu lange an der Macht, um sie zu ignorieren. Die Bewaffnung der Bevölkerung bereitet den Behörden immer wieder Sorgen.“
Ein Hauptproblem sei Putins „personalpolitischer Konservatismus“, worunter zu verstehen ist, dass er sich von engen Weggefährten äußerst ungern trennt, auch dann nicht, wenn diese offenkundig überfordert sind: „Dieses Merkmal unterscheidet ihn von seinen Vorgängern und dient als Grundlage für Mitarbeiter, sich nicht nach anderen Gönnern umzusehen.“ Das sei in Zeiten des Aufstiegs hilfreich, in der „Rezession, Isolation, Konfrontation und des Kampfes“ jedoch fragwürdig.
"Davon hängt Schicksal des Landes ab"
Außerdem seien politische Verwerfungen in Zentralasien, also in Russlands „Hinterhof“ augenfällig: „Es ändert sich etwas im unmittelbaren Umfeld Russlands.“ Gemeint sind damit massive Absetzbewegungen von Ländern wie Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan und Kirgisien, die sich angesichts regionaler Scharmützel wahlweise bei der Türkei, China und den USA nach neuen „Schutzherren“ umsehen: „Um auf diese Herausforderungen und diesen Druck angemessen und effizient zu reagieren, muss Wladimir Putin die maximale Fähigkeit zeigen, erfolgreich nach nicht offensichtlichen, aber gleichzeitig den einzig richtigen Lösungen zu suchen. Davon hängt das Schicksal des Landes ab.“
"Krieg ist immer ein sozialer Aufzug"
In den "VN-News" wird die Putin-Partei "Einiges Russland" sogar gänzlich ohne Ironie als "Verliererpartei" gebrandmarkt: "Nach sechs Monaten der Feindseligkeiten können wir eine unverhüllte und offensichtliche Tatsache feststellen: Die Kampagne zur Mobilisierung des Landes zur Unterstützung der Spezialoperations-Partei 'Einiges Russland' ist kläglich und schändlich gescheitert." Grund dafür sei die Angst der Machthaber und ihrer Gehilfen, nach einem Sieg ihre Pfründe zu verlieren und für neue Helden Platz machen zu müssen: "Krieg ist immer ein sozialer Aufzug."
Der Kreml fürchte geradezu personelle "Strukturveränderungen" nach einem Triumph über die Ukraine und arbeite daran, die Armee kaltzustellen: "Die bürokratische Karrierepartei Einiges Russland fühlt sich durch ihr System des Monopolbesitzes von Posten und Aktenkoffern im ganzen Land bedroht und will den Krieg aus reinem Selbsterhaltungstrieb verlieren. Denn nur wenn wir versagen, werden alle Verdienste der Kämpfer und Kommandeure, der heldenhaften Mitarbeiter der Operation und der Freiwilligen, die täglich ihr Leben riskieren, auf Null zurückgesetzt."
"Allgemein düsterer Hintergrund"
In einem Essay für den „Russian Council“, dem Lobbyverein der russischen Diplomaten, schreibt deren Vorsitzender Andrej Kortunow, vor dem „allgemein düsteren Hintergrund“ gebe es „einige Hoffnungsschimmer“, was allerdings etwas an das sprichwörtliche "Pfeifen im Walde" erinnert. Seine Begründung: Das bisher funktionierende Getreideabkommen mit der Ukraine unter Vermittlung der Türkei und die vorerst abgesagten „Volksabstimmungen“ in den von Russland besetzten Gebieten, mit denen die Annexionen der selbsternannten „Republiken“ kaschiert werden sollte: „Diese und andere ähnliche Schritte bringen die Parteien, wenn auch sehr langsam, der Wiederaufnahme von Verhandlungen über komplexere und grundlegendere Probleme näher.“
"Vertrauen in offizielle Interpretation verringert"
Im russischsprachigen "News"-Portal war offene Kritik an den "Behörden im ganzen Land" zu lesen, die versuchten, den Alltag ungeachtet des Kriegs so normal wie möglich aussehen zu lassen: "Eine solche Politik sollte offenbar wieder einmal alle davon überzeugen, dass in der Ukraine tatsächlich eine Art begrenzter Spezialoperation durchgeführt wird und keine groß angelegte. Mit anderen Worten, der Alltag geht seinen eigenen Weg und die Operation geht ihren anderen. Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in der Region Charkiw [dem überstürzten Rückzug] wird es jedoch immer schwieriger, einen solchen Augenschein aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus haben offensichtliche Fehler im Hinblick auf den wachsenden Informationskrieg das Vertrauen der Öffentlichkeit in die offizielle Interpretation der Ereignisse verringert."
"Früher oder später politischer Durchbruch"
Auch der Umgang mit den Gefahren um das von Russland besetzte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja gebe Anlass zur Zuversicht: „Natürlich können kleine Schritte nicht grundsätzliche Einigungen in den wichtigsten politischen Fragen zwischen Russland und der Ukraine ersetzen. Die Chancen, solche Vereinbarungen zu erzielen, sind jedoch höher, wenn der Verhandlungsprozess auf der bereits gesammelten Erfahrung bei der Lösung spezifischer Probleme basiert. Die Schaffung einer kritischen Masse solcher privaten Entscheidungen kann früher oder später zum politischen Durchbruch führen.“
"Um aufzugeben, müsste sich Putin neu erfinden"
Im Westen wachsen unterdessen die Zweifel, ob Putin sich noch halten kann: „Die Erfolge der Ukraine haben einen soliden Weg zum Aufbau einer Ukraine geebnet, die zu stark ist, als dass Russland sie in Zukunft angreifen könnte“, heißt es im Fachblatt „Foreign Affairs“: „Das ist eine beachtliche Leistung. Die ungelöste Frage ist, wie Putin versuchen wird, die desolate Position Russlands zu bewältigen, mit welchem militärischen Ziel und mit welcher politischen Botschaft. Um aufzugeben, müsste er sich politisch neu erfinden. Um zu mobilisieren, müsste er das Russland neu erfinden, das er seit seiner Machtübernahme im Jahr 2000 geschaffen hat; das vor dem Chaos der 1990er gerettete Russland; das Russland, das eine stabile, konsumorientierte Mittelschicht einleitete; das Russland, in dem ein Privatleben fernab der Politik ein angenehmer Zeitvertreib war. Putin dachte, er würde mit seiner Invasion Selenskyjs Ukraine in den Abgrund stürzen. Möglicherweise hat er dies tatsächlich seinem eigenen Regime angetan.“
"Putins Offiziere werden umso verzweifelter sein"
Weniger „zuversichtlich“ ist der britische „New Statesman“: „Putin wird seinen Streitkräften befehlen, sich neu zu formieren, ihre Ziele anzupassen, mehr zivile Infrastruktur ins Visier zu nehmen und auf Kosten unzähliger ukrainischer und russischer Leben und vielleicht seiner eigenen politischen Zukunft weiterzumachen. Währenddessen versichern ihm seine Mitmenschen, dass er recht hat.“ Während sich ihre Situation verschlechtere, würden Putins Offiziere umso verzweifelter sein, „ihre eigene Haut zu retten und die Schuld auf andere Teile des Geheimdienstapparats, andere Kommandanten und den Westen abzulenken“, der im russischen Fernsehen ohnehin bereits „als Vordenker aller ukrainischen Erfolge“ dargestellt werde.
Im amerikanischen "Atlantic" wird wieder einmal der preußische Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz (1780 - 1831) zitiert, der darauf verwiesen habe, dass jeder Krieg eine "moralische Komponente" habe, ja die Moral ihn als "Ganzes durchdringe": "Der Krieg in der Ukraine hat diese moralischen Elemente, und sie erzeugen gesellschaftliches Durchhaltevermögen und gewinnen internationale Unterstützung; Russlands Krieg tut das nicht, und das wird ihm zum Verhängnis werden. Russland kann sich wahrscheinlich nicht von seinen strategischen Fehlern erholen oder die Ressourcen generieren, um seine Kriegsziele zu erreichen, insbesondere weil seine Führung hartnäckig bleibt und seine Streitkräfte sich nicht anpassen können."
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