Drechseln war in früheren Jahrhunderten eine bedeutende kunsthandwerkliche Technik, nicht nur die Bauern drechselten in der kalten Jahreszeit Schalen und Teller aus frischem Ahornholz, auch an den königlichen Höfen wurde eifrig gedrechselt – dort allerdings in Elfenbein.
Und auch heute ist das Drechseln nicht ganz von der Bildfläche verschwunden, einer der international bedeutendsten Drechsler unserer Zeit ist der Münchner Ernst Gamperl. Seine ungewöhnlichen Arbeiten sind ab sofort in einer großen Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum in München zu sehen.
Drechseln mit frischem Holz
"Bei mir ist der Ansatz die Natur des Holzes und das Material. Das ist meine Inspirationsquelle", sagt Ernst Gamperl. Zehn Jahre lang hat er an seinem "Lebensbaumprojekt" gearbeitet, die Werke waren schon in der Schweiz und in Korea zu sehen, nun endlich kann er sie in seiner Heimatstadt München zeigen.
Wer beim Stichwort Drechseln kleine, kreisrunde Schalen vorm Auge hat, muss bitte kurz etwas größer denken: Ernst Gamperl drechselt vasenförmige, skulpturale Objekte, die bis zu 1,60 Meter hoch sind. Er arbeitet in frischem Holz, das heißt, dass sich die Stücke durch das Trocknen nach dem Drechseln verziehen. Das ergibt natürliche Formen voll weich auslaufender Ausbuchtungen und Vertiefungen. Die Objekte wirken wie Lebewesen oder ein Stück Stoff.
Das zweite Leben einer umgestürzten Eiche
Alle Arbeiten sind aus derselben Eiche gearbeitet: ein riesiger Baum mit einem Durchmesser von 2,60 Meter und insgesamt 33 Tonnen Holz. "Der Baum ist umgestürzt bei einem Sturm, auf ein Einfamilienhaus, zum Glück gab es keinen Personenschaden, da hab ich spontan zugesagt, dass ich den kaufe, wusste aber gar nicht, wie ich den bearbeiten kann. Also ich hab dann noch eineinhalb Jahre Werkstatt und Maschinen umgebaut."
Das Holz arbeitet mit
Fast 100 Objekte hat Gamperl aus diesem Stamm gearbeitet, die größten sind aus einem Block von 600 Kilo gedreht. Das fertige Objekt aber wiegt nur einen Bruchteil davon, denn die Gefäße sind am Ende hauchdünn: "Die Technik funktioniert nur, wenn man sie gleichmäßig dünn arbeitet, sonst würden die Stücke zerbrechen und sich nicht ausformen, damit die Energie des Holzes, des Baumes in die Form fließen kann, sonst würde das durch Unebenheit in der Wandstärke unterbrochen werden und zu Rissbildungen führen. Wenn es Rissbildung gibt, dann immer gewollt und gesteuert."
Gruppe von gedrechselten Objekten von Ernst Gamperl
Auch wenn alle Arbeiten aus derselben Eiche und damit sozusagen aus einer Familie stammen, sind sie farblich sehr verschieden, von einem satten Kastanienbraun bis zu schimmerndem Goldgelb: Gamperl bearbeitet die Oberflächen, lässt die natürliche Gerbsäure der Eiche zum Beispiel mit Kalk oder Eisenoxid reagieren, für hellere Töne neutralisiert er die Gerbsäure mit Wasserstoffperoxid.
Im Bayerischen Nationalmuseum sind Gamperls Arbeiten nun historischen Stücken gegenübergestellt, die aus den Händen der bayerischen Könige stammen. Kuratorin Anette Schommers erzählt: "Dieses kunsthandwerkliche Arbeiten, der Umgang mit so einer ganz neu erfundenen Maschinerie, das gehörte zur Prinzenerziehung, auch um Konzentration zu fördern. Und der Münchner Hof war führend in dieser Technik, weil dort ein Italiener engagiert war, der das Ovaldrehen installiert hat."
Dialog mit dem Material
Ganz anders die Arbeiten von Ernst Gamperl: Ihm geht es nicht um technische Spielereien, sondern um einen Dialog mit dem Material. Durch den Trocknungsprozess hat das Holz selbst entscheidenden Anteil an der endgültigen Form der Gefäßskulpturen, umgekehrt hat Ernst Gamperl der sturmgefällten Eiche mit seiner Arbeit ein zweites Leben geschenkt.
"Ernst Gamperl: Das Lebensbaumprojekt": Bis 5. Oktober im Bayerischen Nationalmuseum. Am 22. Mai feiert im Münchner Filmmuseum zudem ein Film über Ernst Gamperl Premiere.
Eichen-Objekt aus dem Lebensbaum-Projekt von Ernst Gamperl
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