Bei einer Kranzniederlegung am 22. Juni
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Eingeschworene Truppe: Putin umgeben von Generälen

    "Er kontrolliert Emotionen": Ist das Putins Erfolgsrezept?

    Die Zahlen sprechen gegen ihn, die "Siege" für ihn, und darauf kommt es nach Meinung russischer Medien an. Weil er die Psyche der Russen so gut verstehe, habe Putin mehr Handlungsspielraum als seine Gegner und mache aus Fantasie eine "neue" Realität.

    Die Realeinkommen der Russen wachsen seit zehn Jahren nicht mehr, trotz der Milliarden-Einnahmen durch Gas- und Ölverkäufe, die Konjunkturaussichten und Haushaltszahlen sind desaströs, und trotzdem steht die Regierung vergleichsweise gut da: Ein "erstaunliches Phänomen", urteilt die "Nesawissimaja Gaseta" (NG) nicht von ungefähr. Das Blatt verweist darauf, dass sich die wirtschaftliche Lage in nächster Zukunft wohl kaum verbessern dürfte, nicht nur wegen der Sanktionen, sondern auch, weil Russland "Milliarden" in den Wiederaufbau des weitgehend eroberten Donbass stecken müsse, wo die Infrastruktur schon vor dem Krieg beklagenswert war und jetzt weitgehend in Trümmern liegt. Doch auf diese betrübliche Realität komme es offenbar nicht an, sondern auf ihre Interpretation, und da sei Putin unschlagbar.

    "Jede Sieges-Meldung untergräbt die Opposition"

    "Jede Meldung über einen Sieg russischer Truppen hat eine fast verheerende Wirkung auf politische Gegner und untergräbt den Widerstand der Opposition rein emotional", so die NG. Putin habe einfach das bessere Bauchgefühl als seine Widersacher und verstehe, was "seine" Russen von ihm erwarteten. Zum Beispiel lasse er predigen, dass nach dem "Sieg" im Donbass ukrainische Städte wie Odessa, Charkiw und Kiew als nächstes "dran" seien, genau das wollten große Teile der Bevölkerung von ihm hören: "Allem Anschein nach behält Putin weiterhin die Kontrolle über die dominierenden Emotionen der Russen. Das ist die Grundlage für alle seine Entscheidungen. Und sein Rating ermutigt ihn zu neuen, verwegenen Pläne. So ist seine Realität. Oder besser gesagt, so bildet er sich seine Realität ein."

    Die "Deklassierung" Russlands durch die G7-Industriestaaten spiele für den Gemütszustand der Russen einfach (noch) keine Rolle: "Solange Putin die Nabelschnur zur gesellschaftlichen Mehrheit nicht durchtrennt, wird er unaufhaltsam dabei sein, seine höchst eigenen Vorstellungen über die Welt als deren Wirklichkeit zu verkaufen. Putins Wahrnehmung [der Lage] ist geopolitische Realität, auch innenpolitisch." Der russische Präsident vertraut demnach also seinem "Bauchgefühl" und hat keine Probleme, seinen dafür sehr empfänglichen Landsleuten die Welt schönzureden. Aber wie lange kann er die Rolle als populistischer Volkstribun durchhalten?

    "Niemand schaut auf die Zahlen"

    "Es wird zu Recht darauf hingewiesen, dass Russland drei oder vier Monate Sanktionen problemlos aushalten kann. Dann beginnen alle möglichen kleineren Probleme. Und wenn wir nichts tun, werden diese Probleme größer werden. Derzeit tun wir wenig", kritisiert der rechtsnationalistische Wirtschaftswissenschaftler Mikhail Khazin. Er sieht schon jetzt eine "Kreditklemme" und glaubt nicht, dass der Kreml allein den "Niedergang" aufhalten kann.

    Dafür seien massive private Investitionen nötig, aber die fänden wegen der falschen Geldpolitik der russischen Zentralbank nicht statt. Auch Khazin kapituliert sarkastisch vor der rein emotionalen Propaganda: "Es wird kein Wirtschaftswachstum geben. Das wird durch die Zahlen bestätigt. Das Problem ist, dass vor lauter Jubel, was für gute Leute wir in der Regierung haben, niemand auf diese Zahlen schaut. Das wird aber nicht helfen."

    "Sanktionen? Interessiert uns nicht"

    Noch kann sich der Kreml aber offenkundig die totale Realitätsverweigerung leisten. So hieß es nach dem Treffen der BRICS-Staaten, also neben Russland und China auch Brasilien, Indien und Südafrika in einem offiziösen Artikel der kremlnahen Nachrichtenagentur RIA Nowosti: "Der gesamte Verlauf des [virtuellen] Gipfeltreffens in Peking sendete ein einfaches und verständliches Signal an die Weltgemeinschaft: Sanktionen? Worüber redet ihr? Bei uns ist alles in Ordnung, wir sprechen über eine starke Beschleunigung der Zusammenarbeit und Wachstum, wir diskutieren über neue Projekte. Und mit ihren Sanktionen können sie machen, was sie wollen, das interessiert uns nicht."

    "Es könnte schlimmer sein"

    Ziemlich bitter kommentiert Ramil Garifullin, außerordentlicher Professor des Instituts für Psychologie und Pädagogik, Putins derart marktschreierische Erfolgsmasche. Er fragt sich rein rhetorisch, ob es "Einbildung oder Realität" ist, dass Russland noch mächtige Verbündete habe und hält das für eine Illusion. Die Länder Zentralasiens, die früher der UdSSR angehörten, wählten aus nachvollziehbaren Gründen einen "Mittelweg" zwischen Russland und dem Westen, seien sie doch auf die "Vorteile" beider Seiten bedacht. "Es könnte schlimmer sein. Und Russland muss auf diese Verschlechterung vorbereitet sein", bilanziert Garifullin düster.

    Was China betrifft, sei es wirtschaftlich auf die USA angewiesen und werde daher sicherlich nicht das "Überleben" Russlands garantieren: "China spielt meisterhaft mit den Medien. Aufblasen, was am Ende doch nicht passiert. Das Wesen Chinas ist klar und offensichtlich: Amerikanische Dividenden abgreifen, durch Beobachten, Abwarten, Einflussnahme und Raushalten." Die Kreml-Fantasie, wonach die BRICS-Staaten es mit den G7 aufnehmen könnten, wäre demnach also als Hirngespinst Putins entlarvt.

    "Wird nicht schlimmer, als es ist"

    Auch das Wirtschaftsblatt "Kommersant" aus St. Petersburg, von jeher in Opposition zum russischen Präsidenten, schreibt, dass die BRICS-Mitglieder den "Crashtest" wohl kaum bestehen werden, da Brasilien, Indien und Südafrika garantiert kein Interesse am einer "neuen Realität" hätten, also die Gegensätze zum Westen nicht verschärfen wollten.

    Auch der faktische Zahlungsausfall Russlands an den internationalen Anleihemärkten soll aus Sicht des Kreml halb so schlimm sein: "All diese Sanktionen, Vertragskündigungen, das Misstrauen und so weiter, sollen sie unsere Zahlungsunfähigkeit erklären, es wird niemandem ernsthafte Probleme bereiten, auch nicht Russland. Es wird nicht schlimmer als es ist", wiegelte Nikolai Arefijew ab, der erste stellvertretende Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Wirtschaftspolitik.

    "Russische Elite ist atomisiert"

    Offenbar ist die russische Gesellschaft mehrheitlich gern bereit, solche Beruhigungspillen zu schlucken, und auch an der Spitze soll es trotz viel Unbehagen keine wirklich rebellische Stimmung geben: "Die russische Elite ist atomisiert, jeder in ihr fürchtet um seine Zukunft und lebt in ständiger Angst vor Denunziationen. Putins Schiedsrichter-Funktion schwächelt, aber er bleibt immer noch der einzige 'Stabilitätsgarant', obwohl es ihn als solchen gar nicht mehr gibt, weil in Russland keine anderen Mechanismen zur Regelung von Konflikten innerhalb der Eliten entstanden sind", meint Politologin Tatjana Stanowaja vom Carnegie Center in Moskau.

    "Putin eher Belastung als Retter des Systems"

    Nach und nach würden die führenden Kreise Putin immer weniger konsultieren, glaubt Stanowaja. Sie würden sich so still und heimlich wie möglich "davonstehlen" und nach einem geeigneten Ersatzkandidaten Ausschau halten: "All das führt dazu, dass Putin in seiner jetzigen Funktion eher zur Belastung für das System als zu seinem Retter wird. Die Elite wird nach Wegen suchen, ihre Rolle bei der Entscheidungsfindung der Regierung zu minimieren, aber auf eine Weise, die Kontinuität gewährleistet. Das ist die einzige Möglichkeit, die Gesellschaft vor einer Revolte angesichts einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise zu bewahren."

    Welche "Realität" schließlich die Oberhand behält, die rein emotionale, in militärischen "Siegen" und territorialen Gewinnen gemessene, oder die rational erfassbare mit ihren Haushaltslöchern, Zahlungsausfällen und Importproblemen, das ist keineswegs ausgemacht: Putin war bisher sehr erfolgreich darin, Russland seine Brille aufzusetzen. Und durch die betrachtet ist die Welt eine einzige "große Chance".

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