Der Unternehmer mit einem Handy
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Musikmanager Iosif Prigoschin

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"Er ist nicht zu retten": Dubiose Putin-Kritik wühlt Russen auf

Ein bekannter russischer Musikmanager soll im Telefongespräch mit einem Oligarchen lautstark über Putin gelästert haben. Der Mitschnitt ging online, jetzt ist die Aufregung riesengroß, trotz halbgarer Dementis: "Die besonders Schlauen springen ab."

"Ich stehe jetzt unter Schock und verstehe nicht, wie ich mit dieser Scheiße weiterleben soll", klagte der russische Musikproduzent Iosif Prigoschin (53, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Privatarmee-Betreiber) in einem Interview mit dem St. Petersburger Blatt "Fontanka". Grund für seinen Frust: Er wird beschuldigt, vor einigen Wochen mit dem aserbaidschanischen Oligarchen Farchad Achmedow (67) telefoniert zu haben und dabei ziemlich unflätig über Wladimir Putin hergezogen zu sein.

Der Mitschnitt wurde ins Netz gestellt, ukrainische Medien griffen die Angelegenheit verspätet auf. In einer ersten Reaktion hatte Prigoschin versucht, alles als "Fake" hinzustellen und von "neuronalen Netzen" fantasiert, die Stimmen imitieren könnten. Doch schnell korrigierte sich der kremlnahe Manager und redete sich damit heraus, er könne sich an das Gespräch "nicht mehr erinnern".

"Das Land wird nicht stärker"

Der Medienwirbel ist vor allem deshalb riesengroß, weil hier zwei vermeintliche Putin-Bewunderer mutmaßlich dabei ertappt wurden, wie sie wirklich über die aktuelle Lage denken: "Fälschung oder nicht Fälschung, das spielt überhaupt keine Rolle. Das ist ein sehr interessantes Signal - die Kremlfraktionen streiten sich", so ein Blogger. Und kein Geringerer als der viel zitierte kremlnahe Politologe Sergej Markow räumte ein, das dubiose Audio sei "vielleicht" echt, die Teilnehmer "anscheinend" betrunken gewesen: "Die Mehrheit in der Elite kann sich die Gründe für das Ausbleiben eines russischen Sieges nicht erklären, und das frustriert sie. Und sie erklären es sich auf seltsame Weise."

Die tonangebenden Kreise in Moskau seien "schockiert" über die militärischen Fehlschläge, so Markow: "Sie sind schockiert, dass Russland eine enorme Schwäche gezeigt hat, die sie nicht erwartet haben. Und das Land wird nicht stärker. Es ist nicht klar, was die Regierung zum Besseren verändert hat." Nicht wenige fragten sich, "wann und wie all dieser Horror enden" werde: "Solche [Telefon]-Gespräche zeigen: manche denken wirklich so. Und ein Teil hofft, dass noch alles gut wird, sublimiert aber mit solchen Gesprächen die Ängste." Über die herbe Kritik an der Personalpolitik des Kremls in den letzten Jahren schrieb Markow: "Viele werden dem zustimmen." Insgesamt bereiteten sich Leute wie Prigoschin und Achmedow auf den "möglichen Abgang Putins" vor.

"Lauter Kakerlaken"

Es geht also weniger darum, ob der veröffentlichte Mitschnitt wirklich unter Beteiligung von Prigoschin und Achmedow entstand, sondern darum, dass die dort gemachten Aussagen einen Nerv der russischen Gesellschaft trafen. Es fielen in dem Telefonat Sätze wie: "Putin ist nicht mehr zu retten, er ist für alles verantwortlich. Wir haben eine Republik, eine Föderation, ein Präsidialsystem. Der Präsident wird für all das einstehen müssen. Für alles. Sie werden ihn zur Verantwortung ziehen." Achmedow soll Putin gar als "Satan" geschmäht haben. Prigoschin wetterte, der ganze Kreml bestehe aus "Kriminellen", Russland gehe den Bach runter, es bleibe nur noch das Exil. Fast in jedem Satz wurde geflucht.

Achemedow soll gezetert haben: "Putin wird nicht nachgeben, er kann nicht vorankommen. Um ihn herum sind lauter Kakerlaken, verdammt, wie in einem Glas gefangen, sie knabbern schon aneinander rum. Sie gruppieren sich bereits. Sie werden erst einen zerstören, dann werden sie sich gegenseitig verschlingen, sie werden sich an die Kehle gehen. Sie werden sich gegenseitig ertränken. Weil sie bereits am Ertrinken sind, sie saufen ab. Sie verstehen, dass alles verloren ist." Rund 35 Minuten werden von den beiden Gesprächspartnern mit solchen "Diagnosen" gefüllt.

"Natürlich habe ich Angst"

Einer der russischen Militärblogger behauptet, er wisse seit mehreren Wochen, dass die Worte wirklich so gefallen seien und über die Freisprechanlage von Achmedow mitgeschnitten worden seien: "Man sollte niemals versuchen, den Beweis antreten zu wollen, dass man dümmer ist als man selbst glaubt." Das Exil-Portal "Istories" beruft sich auf einen Informanten beim russischen Geheimdienst, wonach das Telefonat absolut authentisch sei.

Während sich Oligarch Achmedow mit keinem Wort dazu äußerte, war der versierte Showman Iosif Prigoschin vergleichsweise redselig: "Menschen können in einem privaten Gespräch über alles reden", sagte er der "Fontanka". Gefragt, ob er sich jetzt vor den Folgen seiner Läster-Attacke fürchte, antwortete der Musikmanager: "Natürlich habe ich Angst. Das ist mir natürlich unangenehm. Aber erstmal bekomme ich jetzt psychische Folgen zu spüren. Ich fühle mich jetzt sehr schlecht. Und das ist das Wichtigste. Diese ganze Geschichte ist mir sehr unangenehm." Als der Interviewer wissen wollte, wie seine unmittelbare Umgebung reagiere, sagte Prigoschin: "In solchen Momenten zerstreuen sich deine Bekannten. Sie decken sich mit Popcorn ein und beobachten die Reaktion seitens der Behörden."

"Frecher, aggressiver, aufbrausender Mensch"

Der Produzent erläuterte auch, warum er Russlands derzeitige Lage für eine "Katastrophe" halte: "Im Moment klatschen viele Leute in die Hände und hoffen, dass eine bestimmte Person es gerade vermasselt. In diesem Sinne ist es eine Katastrophe." Sein Telefonat sei jedenfalls "normale Kommunikation" gewesen.

Die Häme ließ nicht lange auf sich warten: Söldnerführer Jewgeni Prigoschin von der Privatarmee "Wagner" hatte nichts Besseres zu tun, als sich von seinem Namensvetter zu distanzieren: "Iosif Prigoschin unterscheidet sich sehr deutlich von mir. Erstens heißt er Joseph, und zweitens ist er von Natur aus ein ziemlich frecher, aggressiver und aufbrausender Mensch. So ist das im Showbusiness. Ich bin eine sehr ruhige, nachdenkliche und nicht aggressive Person." Einer der zahlreichen Blogger empfahl dem Musikmanager, sich bei der Privatarmee anzumelden und dort "Wut abzulassen".

In einer weiteren Reaktion auf den Vorfall bezeichnete der Söldnerführer seinen Namensvetter als "Arschloch", weil er sich für seine Aussagen entschuldigt habe: "Die Tatsache, dass Joseph telefoniert hat, ist sein volles Recht. Wenn jetzt nach dem Paragrafen wegen 'Diskreditierung der Armee' auch schon Telefongespräche verboten sein sollten, dann kann man gleich eine allgemeine Kastration oder andere drakonische Maßnahmen einleiten."

"Ja, es ist schwer"

Boris Mesujew, Philosophie-Professor an der Russischen Akademie der Wissenschaft, bedauerte, dass sich die russische Öffentlichkeit in gewisser Weise "verengt" habe: "Wenn es eine ernsthafte, systemrelevante liberale Oppositionspartei gäbe, die Putin unterstützt, aber manche seiner Schritte anzweifelt, einschließlich des Konflikts in der Ukraine, dann wäre es meiner Meinung nach für alle einfacher. Dann gäbe es keine zwingende Einstimmigkeit der Elite, die den eigentlichen Konflikt zwischen 'Kriegspartei' und 'Friedenspartei' verdeckt." Ansonsten wolle er daraus keine "große Sache" machen, denn das Menschen privat ganz anders redeten als öffentlich, sei "nicht sehr überraschend".

Bloggerin und Ultra-Patriotin Anastasia Kaschewarowa beschimpfte das Telefon-Duo als "verdammte Freaks": "Scheiß auf diese Art von Patriotismus." Allerdings teile sie manche pessimistische Einschätzung der Lage an der Front: "Ja, es ist schwer. Manchmal sehe ich kein Licht mehr am Ende des Tunnels. Und als ich diesen Leuten zuhörte, wurde mir klar, dass sie dazu geführt haben."

"Wie bei George Orwell"

Die "Wölfe" begännen, übereinander herzufallen, war in den russischen Netzforen zu lesen. Iosif Prigoschin sei eine opportunistische "Wetterfahne" und werde vermutlich "eine Woche in die Klinik gehen und vom Krankenbett Interviews" geben. Andere verwiesen darauf, es sei den Kreml-Leuten an den Gesichtern abzulesen, was sie wirklich dächten, etwa, wenn ihnen bei Putin-Reden die Augen zufielen, die "Schlauesten" seien gerade dabei "abzuspringen". Das Wichtigste in "dieser bestialischen Zeit" sei, mit sich selbst im Reinen zu bleiben, seufzte jemand. Ein anderer schrieb, jetzt beginne die "massenhafte Umlackierung".

Originell war ein Kommentar, der auf die zahlreichen toten Oligarchen der vergangenen Monate verwies: "Glaubst du, er [Prigoschin] wird sich jetzt mit fünf Kugeln ins Herz schießen, aus einem Fenster im zweiten Stock in den Tod springen und sich alle Knochen brechen oder sich mit einer Krawatte in der von außen verschlossenen Toilette seines Hauses in London aufhängen?" Mit Anschlägen kennt sich Iosif Prigoschin übrigens aus: 2002 wurde sein Mercedes in die Luft gesprengt. Immerhin sei jetzt klar, was "echte" Patrioten dächten, spottete ein Diskussionsteilnehnmer.

"Das Land lebt seit langem wie bei [George] Orwell", meinte ein Diskutant mit Hinweis auf den berühmten Roman "1984": "Diese beiden Gesprächspartner am Telefon sind wohl nicht die letzten Menschen im Land, die ertappt werden. Der große Bruder beobachtet dich die ganze Zeit. Es ist höchste Zeit, das als selbstverständlich hinzunehmen."

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