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Timothy Snyder

    Experte: Das spricht für Faschismus in Russland

    Der vielfach prämierte amerikanische Historiker Timothy Snyder ist überzeugt, dass Putin dieselben Herrschaftstechniken nutzt wie Hitler. Er müsse unbedingt besiegt werden, um die Demokratien zu retten und den rechtsextremen "Mythos" zu zerstören.

    Beängstigend, wie die Kriegsparteien Russland und Ukraine mit dem Begriff "Faschisten" um sich werfen und überall "Nazis" wittern. Das ist natürlich in erster Linie Propaganda, die zurückgreift auf das, was im historischen Gedächtnis der Bevölkerung Osteuropas am meisten präsent ist: Der Zweite Weltkrieg. Doch nach Ansicht des an der Universität Yale lehrenden Historikers Timothy Snyder spricht tatsächlich viel dafür, dass Russland inzwischen ein Staat mit einer faschistischen Regierung ist.

    In einem Beitrag für die "Moscow Times" nennt Snyder drei Hauptkriterien: Es gebe einen Führerkult um Putin, es gebe einen Totenkult um die Opfer des Weltkriegs und es gebe einen Vergangenheitskult um ein zurückliegendes goldenes Zeitalter imperialer Größe, das mit Hilfe heilender Gewalt wiederhergestellt werden müsse.

    "Faschismus wurde als Idee nicht besiegt"

    All diese Mythen kennzeichneten zweifellos auch Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus, denn Hitler verstand seine Diktatur bekanntlich als "Drittes Reich", mit dem das zweite fortgesetzt werden sollte, allerdings ohne Monarchie. "Der Faschismus wurde als Idee nicht besiegt", meint Snyder. "Er kehrte zurück – und Russland wurde das Land, das den faschistischen Vernichtungskrieg anführt. Wenn Russland gewinnt, wird es Faschisten auf der ganzen Welt erfreuen."

    Es sei falsch, den Faschismus nur auf Hitler zu beschränken, schließlich sei er in Italien entstanden und habe Anhänger in ganz Europa gehabt, etwa in Rumänien, aber auch in den USA: "Die Ähnlichkeit zwischen dem, was damals geschah, und dem, was Putin tut, ist verblüffend." Zu den vielen Irrationalitäten des Faschismus gehöre die Behauptung des Kreml, die Ukraine sei ein "künstliches Gebilde", dessen jüdischer Präsident nur bestätige, dass es nicht real sein könne: "Es wird angenommen, dass die Massen nach der Beseitigung einer kleinen Elite die russische Herrschaft gerne akzeptieren werden."

    Hitler-Stalin-Pakt gilt in Russland als "undenkbar"

    Viele zögerten, das heutige Russland als faschistisch zu betrachten, weil Stalins Sowjetunion sich schließlich selbst als antifaschistisch definiert habe: "Aber 1939 schloss sich die Sowjetunion de facto Nazi-Deutschland an, und die beiden Mächte fielen gemeinsam in Polen ein. Nazi-Reden wurden in der sowjetischen Presse nachgedruckt, und Nazi-Offiziere staunten über die Wirksamkeit sowjetischer Massendeportationen." Darüber sprächen die Russen heute nicht. Putin habe einen "historischen Mythos von Russlands Unschuld und verlorener Größe" aufgebaut: "Russland sollte ein Monopol auf Opfer und Sieg haben. Die Tatsache, dass Stalin den Zweiten Weltkrieg verursachte, indem er sich mit Hitler zusammentat, gilt im Inland als undenkbar."

    "Russland ist wegen seiner Vergangenheit unschuldig"

    Der sowjetische Antifaschismus sei keinesfalls das Gegenteil von Faschismus gewesen, so Snyder: "Denn faschistische Politik beginnt, wie der Nazi-Denker Carl Schmitt sagte, mit der Definition des Feindes. Und der sowjetische Antifaschismus bedeutete nur die Suche nach einem Feind. Damit bot er dem Faschismus eine Hintertür, durch die man nach Russland zurückkehren konnte." Eindeutig rechtsextreme Denker wie Alexander Dugin und Alexander Prochanow bekämen in Russlands Medien viel Platz zur Selbstdarstellung und für Putin sei ein "Faschist" oder "Nazi" einfach jemand, der sich ihm oder seinem Plan widersetze, die Ukraine zu zerstören.

    Ein Zeitreisender aus den 1930er Jahren hätte keine Schwierigkeiten, Putins Regime als faschistisch zu identifizieren, behauptet der US-Historiker: "Das Z-Symbol, Kundgebungen, Propaganda, Krieg als reinigender Gewaltakt und Todesgruben rund um ukrainische Städte machen das alles sehr verständlich. Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur eine Rückkehr zum traditionellen faschistischen Schlachtfeld, sondern auch eine Rückkehr zu traditioneller faschistischer Sprache und Praxis. Andere Menschen existieren, um kolonisiert zu werden. Russland ist wegen seiner alten Vergangenheit unschuldig. Die Existenz der Ukraine ist eine internationale Verschwörung. Krieg ist die Antwort."

    "Zusätzliches Chromosom für Spiritualität"

    Mit seiner Ansicht steht Timothy Snyder natürlich bei weitem nicht allein: "Putin verhält sich genauso wie Hitler in den 1930er Jahren", schreibt der russische Publizist und Kremlgegner Alexander Skobow. "Er verwendet direkt Hitlers Propagandaschemata, wie die Rede vom 'gespaltenen Volk'. Und einer seiner Hofschranzen pries den arischen Stamm, der aus den Karpaten stamme und mit einem zusätzlichen Chromosom für Spiritualität ausgestattet sei. Hallo Schädeldecke!" Eine Anspielung auf die Marotte der Nazis, die "Herrenrasse" mit der Vermessung von Schädeln zu definieren.

    Für Skobow nahm Russland den Weg vom "leicht autoritären" Regime zum Faschismus mit großen Schritten: "Laut George Orwell ist in jedem Menschen ein Geheimnis verborgen, ein wollüstiges Verlangen, einen Stiefel auf das Gesicht des Feindes treten zu sehen. Mit dem Wachküssen dieses 'Geheimnisses', mit seiner Ausbeutung erhob sich Putins Regime. Und er hat eine ausreichende Anzahl von Menschen herangezogen, die bereit sind, all das zu tun."

    Russen sehen sich von "neoliberalem Faschismus" attackiert

    Wie sehr das begriffliche Koordinatensystem vor allem innerhalb Russlands inzwischen verschoben wurde, zeigt die Behauptung des Sekretärs des Russischen Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew (70), das Land werde vom "neoliberalen Faschismus" des Westens attackiert: "Es ist wichtig zu verstehen, dass die globale Aggression gegen unser Land nicht nur eine politische und wirtschaftliche, sondern auch eine ideologische Dimension hat. Die Situation um Russlands militärische Sonderoperation in der Ukraine zeigt, dass sich der Neoliberalismus des kollektiven Westens vor unseren Augen in die Ideologie des neoliberalen Faschismus verwandelt, der hauptsächlich darauf abzielt, die russische Welt auszulöschen. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten betrachten die Auswirkungen auf die traditionellen spirituellen und moralischen Werte und die Kultur Russlands als einen der Hauptmechanismen zur Eindämmung und Zerstörung Russlands."

    Manchmal wird es unfreiwillig komisch

    Der Westen brauche "kein mächtiges, sich dynamisch entwickelndes, souveränes Russland", so Patruschew, was ebenfalls sehr an Argumentationen aus der Zeit des Nationalsozialismus erinnert, wonach Deutschland vom damaligen Völkerbund, der Vorgängerorganisation der UNO, sein ihm gebührender Platz in der Welt versagt wurde.

    Mitunter wird die Debatte geradezu unfreiwillig komisch. So sagte der von den Russen eingesetzte stellvertretende Leiter der eroberten südukrainischen Stadt Cherson, Kirill Stremusow: "Wir haben wiederholt gesagt, dass Cherson eine ursprünglich russische Stadt ist, es hat hier nie Faschismus gegeben, sie hatte ihre eigene Geschichte." Es ist kein Geheimnis, dass Russland daran arbeitet, die Region Cherson zu annektieren. Das fällt natürlich leichter, wenn es dort nie "Faschismus" gab und der Ort, wie behauptet, quasi eine "lupenreine", allerdings weitgehend fiktive Historie hat, die zum Kreml-Mythos passt.

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