An der Kremlmauer häufen sich Blumen an Stalins Grab
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Rote Nelken für Stalin zum 70. Todestag

    "Er hätte es so gewollt": Russland sehnt sich nach Stalin zurück

    Zum 70. Todestag des berüchtigten Diktators blenden russische Meinungsführer seine Verbrechen aus und loben Stalin als Siegertyp und "Geißel der Elite". Je weniger militärischen Erfolg Putin habe, desto mehr müsse er sich an Stalin messen lassen.

    So ganz unrecht hat die kremlnahe Nachrichtenagentur RIA Nowosti nicht, wenn sie behauptet, dass es in den letzten Jahrzehnten in Russland eine "Rehabilitierung von unten" gab, was den Gewaltherrscher Josef Stalin (1878 -1953) betrifft. Viele Russen, die unter dem Turbokapitalismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu leiden hatten, vor allem arme und ungebildete Schichten, feierten Stalin plötzlich als "Geißel der korrupten Beamten und Verräter", als "strafendes Schwert für verfaulte Eliten", als "Donnergott gegen alle inneren Feinde" und natürlich als "Sieger" des Zweiten Weltkriegs.

    Auf den Diktator projizierte sich die große, aus Wut und Hass gespeiste Sehnsucht, mit allen Profiteuren der neuen Zeit abzurechnen: "Es ist dieses Bild von Stalin, das sich endgültig in den Köpfen der Bevölkerung festgesetzt hat – und das ist der Grund dafür, dass ihm fast alle Umfragen den ersten Platz unter allen historischen Persönlichkeiten unserer Geschichte einräumen", so der Nowosti-Kolumnist Petr Akopow.

    "Mäuse rechneten mit totem Löwen ab"

    Gegen diese Stalin-Renaissance anzukämpfen sei "nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich, fast selbstmörderisch", so der forsche Meinungsführer, denn jeder, der den Diktator verteufele, bediene automatisch einen "russophoben Mythos" mit dem Ziel, Russland zu spalten und zu besiegen: "Aber Stalin sollte für Russland arbeiten, uns zum Sieg verhelfen – er hätte es selbst so gewollt." Es sei völlig unerheblich, welcher Mensch der sowjetische Gewaltherrscher charakterlich gewesen sei, so Akopow.

    Entscheidend sei allein der damit verbundene "Mythos". Russland sei niemals gut damit gefahren, Stalin zu verunglimpfen. Als dessen Nachfolger Chruschtschow 1956 die massenhaften Hinrichtungen und das Lagersystem parteiintern gebrandmarkt habe, habe das an eine "Abrechnung von Mäusen mit einem toten Löwen" erinnert. Außerdem belaste der kritische Umgang mit Stalin das russisch-chinesische Verhältnis.

    Stalin als "Schmerzmittel"?

    "Meiner Meinung nach hat Stalin in der Geschichte unseres Landes und der gesamten Menschheit eine viel positivere Rolle gespielt als viele derjenigen, für die heute Denkmäler herumstehen", sagte der Historiker und Publizist Jewgeni Spitsin und kritisierte im gleichen Atemzug alle Erinnerungsstätten für Boris Jelzin. Letztlich gebe der Stalinkult einmal mehr Karl Marx recht, urteilte der Fachmann: "Im Inneren der Menschen ist bereits ein mythologisches Bild von Stalin entstanden. Ja, es war wie eine Religion. Übrigens, wenn sie sagen, Religion sei das Opium des Volkes, verfälschen sie damit den Sinn des Zitats von Karl Marx. Wörtlich sagte Marx nämlich, Religion sei der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände sei. Das heißt, sie ist ein starkes Schmerzmittel, das die Menschen in den Jahrtausenden ihres Bestehens entwickelt haben."

    Geradezu inbrünstig steigerte sich Spitsin in eine Stalin-Eloge: "Ich weiß nicht, ob wir noch einmal so einen Aufstieg erleben werden. Mit all den Fehlern, Fehlkalkulationen und sogar Verbrechen der Sowjetregierung hat sich das Land in all den Jahren dynamisch entwickelt, die schwierigsten Perioden seiner Geschichte überwunden und ist in den Rang einer Großmacht eingetreten, die zwei Drittel der Welt beeinflusste. Bevölkerung und Wohlstand wuchsen stetig. Wir traten keine Minute auf der Stelle und wurden auf der ganzen Welt respektiert."

    Einmal mehr verbreitete Spitsin die Propaganda-Mär, Stalin habe seinen eigenen Kult lächerlich gefunden. Tatsächlich machte sich der Diktator gern lustig über groteske Auswüchse seiner Verehrung, war für die Unterwürfigkeit seiner Fans aber gleichwohl sehr empfänglich: "Er widersetzte sich dem Kult nicht entschieden, weil er verstand, dass ein geheiligter Ort niemals leer sein darf, dass diese [Altar-]Nische unbedingt gefüllt werden muss, da dies die Psychologie der Menschen so will - vor allem der Russen. Und Stalin, der ein weiser Mann war, nahm diesen Umstand in Kauf", verfälschte der Historiker die quasireligiöse Propaganda der Schreckensherrschaft.

    "Wird uns der Monat noch überraschen?"

    Allerdings musste sich Spitsin manch herben Netzkommentar gefallen lassen: "Menschen, die davon träumen, die Welt zu erobern und dabei das große Land übersehen, in dem das Durchschnittsgehalt 250 Euro beträgt. Ist das Ihr Superhirn?" Andere verwiesen darauf, dass viele russische Herrschergestalten im März starben: "Wird uns der Monat noch überraschen?" Stalin-Fans gaben zu bedenken: "Sie können die Arbeit nicht mit Stalin allein erledigen. Sie brauchen dafür auch sein Team von Volkskommissaren."

    Stalin habe Russland "mit dem Pflug erobert" und mit "Atomreaktoren zurückgelassen", hieß es voller Bewunderung: "Er hob uns auf das Niveau der zweiwichtigsten Industriemacht der Welt." Typisch russisch auch der Hinweis: "Lasst uns auf das Vaterland trinken, auf Stalin trinken, trinken und wieder einschenken." In manchen russischen Städten, darunter Wolgograd, wurden bereits wieder neue Stalin-Büsten aufgestellt, andere diskutieren gerade darüber, wobei die flammendsten Befürworter daran erinnern, dass in der Sowjetunion letztlich alles besser gewesen sei als heute, sogar das Speiseeis.

    "Putin will eleganten Anzug nicht tauschen"

    Der in Saarbrücken und Düsseldorf lehrende Historiker Alexander Fridmann schreibt für die "Deutsche Welle": "Putin hat sich wirklich auf den 'stalinistischen Weg' begeben und dabei auf das Nachziehen der Schrauben, Repressionen und Hasspropaganda gesetzt. Der jetzige Präsident ist voller Ehrgeiz, aber er hat nicht die Entschlossenheit, Kompromisslosigkeit und Radikalität Stalins. Der fanatische Asket Stalin wirkte in seiner Rolle als blutiger Tyrann natürlich. Von den Lippen des Lebemanns Putin klingen Rufe nach einer neuen Weltordnung prätentiös und grotesk. Putin kann und will vor allem seinen eleganten Anzug nicht gegen ein schlichtes stalinistisches Jackett tauschen."

    "Putin will nicht darüber reden"

    Politologe Sergej Markow beklagt sich darüber, dass der Kreml Stalins 70. Todestag am 5. März offiziell ignoriert: "Sie wollen die russische Gesellschaft nicht spalten. Schließlich gibt es in der Gesellschaft viele Unterstützer Stalins und entschiedene Antistalinisten." Putin schätze "Ideologie" nicht sehr, habe sogar Angst davor, so Markow. Und vor "Repressionen gegen die Elite" fürchteten sich im Kreml erst recht zahlreiche einflussreiche Berater und Oligarchen: "Putin weiß, dass Russland von ihm verlangt, in Stalins Fußstapfen zu treten. Aber er will nicht. Und deshalb will er auch nicht darüber reden." Allerdings werde Stalin zur Messlatte der jetzigen Regierung, "wenn Russland weiterhin Niederlagen" erleide.

    "Zum Jahrestag hätte Stalin Personen erschießen lassen"

    Dass die kommunistische "Prawda" sich nicht verpflichtet fühlte, an Stalins 70. Todestag zu erinnern, ist angesichts der Renaissance seines Andenkens verblüffend. Der Historiker Anatoli Rasumow bekommt nach eigener Aussage immer noch zwei bis drei Mal die Woche Anfragen von Russen, die den Verbleib von Angehörigen unter Stalins Schreckensherrschaft aufklären wollen.

    Zu den Ereignissen nach dem Tod des Diktators sagte Rasumow: "Da war einfach dieser ganze Horror – und plötzlich stellte sich in ein paar Monaten alles auf den Kopf, und nach vier Jahren gab es ein Festival der Jugend und Studenten, sie ließen wieder Ausländer herein, starteten einen zivil genutzten Satelliten, begannen, eine ganz andere Richtung einzuschlagen. Wenn Stalin am Leben geblieben wäre, hätte er den Jahrestag der Revolution gefeiert, indem er mehrere Personen aus seinem inneren Kreis und viele andere hätte erschießen lassen."

    Krankhafte Verschwörungs-Fantasien

    Die Russen seien mit Stalin schon immer "naiv" umgegangen, so der Historiker. Als der Generalsekretär der KPdSU 1937 angekündigt habe, es werde freie und allgemeine Wahlen geben, hätten vorwitzige Dorfbewohner glatt Priester als Kandidaten nominiert - die Exekutionen folgten umgehend.

    Für seine völlig aus der Luft gegriffenen, zunehmend krankhaften Verschwörungs-Fantasien war Stalin besonders berüchtigt. Dem linken deutschen Schriftsteller Lion Feuchtwanger ("Moskau 1937 - ein Reisebericht für meine Freunde") antwortete der Diktator auf die Frage, warum es denn keine Beweise für all die angeblichen Machenschaften der in Schauprozessen angeklagten Kommunisten gebe, das sei ja gerade das Kennzeichen von Verschwörern, dass sie keine Unterlagen anfertigten.

    "Macht sich in Putins Rhetorik bemerkbar"

    Ronald Grigor Suny, Professor für Geschichte und Politikwissenschaften an der University of Michigan, sagte im Gespräch mit dem im Ausland erscheinenden Portal "Meduza": "Stalin blieb nicht nur wegen der massiven Säuberungen so lange an der Macht. Darüber hinaus gab es eine riesige Propagandamaschine, die den Sowjetbürgern ständig einhämmerte, dass nur mit Stalin eine strahlende, freudige Zukunft erreicht werden könne. Vergessen Sie den Zweiten Weltkrieg nicht. Der härteste Sieg wurde durch die Bemühungen der einfachen Leute errungen, aber in ihren Köpfen war er mit Stalin verbunden."

    Über Stalins Verhältnis zur Ukraine meinte Suny: "Nach den wenigen überlieferten Zeugnissen zu urteilen, betrachtete Stalin die Ukrainer mit Verachtung. Er war Georgier, verband sich aber so eng mit Russland, dass er in vielerlei Hinsicht eine russophile Sichtweise übernahm. Eine ähnliche imperiale Herablassung der Einwohner Russlands gegenüber anderen Völkern [der Sowjetunion] bemerkte ich, als ich in den 1960er Jahren durch die UdSSR reiste. Die ukrainische Kultur ist für sie ein Oxymoron, die Ukrainer sind für sie kein eigenständiges Volk, sondern ein Teil Russlands. Das macht sich übrigens auch in Putins Rhetorik bemerkbar."

    1961 wurde Stalins Leichnam aus dem Mausoleum an der Kremlmauer entfernt und in einem Grab beigesetzt, das bis heute viele Bewunderer anzieht.

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