Die Idee, die die Documenta-Findungskommission 2019 dazu verleiten konnte, das bei uns weitgehend unbekannte indonesische Kollektiv Ruangrupa zum Gruppenkurator dieser Documenta zu berufen, hatte schon etwas: Menschen aus dem postkolonialen Süden sollten in den Norden kommen und uns hierarchiefrei sowie ungefiltert ihre Sicht der Dinge erzählen. Doch jetzt nach 100 Tagen Documenta Fifteen kann man sagen: Wegen des Antisemitismus-Skandals gab es statt Diskussion Geschrei, wurden schätzungsweise 99,8 Prozent der angeregten Themen gar nicht besprochen, sind in einer allgemeinen Polit- und Mediendebatte über unser Verhältnis zum Staat Israel untergegangen. Man könnte auch ironisch hervorheben: Die Meinung des globalen Südens hat uns im Norden nicht gefallen.
"Vom Antisemitismus distanziert"
Die Verengung der Diskussionsgrundlage auf das Themenpaar Antisemitismus und Existenzberechtigung des Staates Israel befürchtete Sabine Schormann, die ehemalige Geschäftsführerin der Documenta, bereits Mitte Juni zur Eröffnung der Schau. "Das ist natürlich etwas, was uns sehr belastet, zumal es ja von Anfang an so war, dass sie auf wenig Basis oder Fakten beruht, dass sich sämtliche Künstlerinnen und Künstler, Ruangrupa, wir als Gesellschaft, die Gesellschafter vom Antisemitismus distanziert haben, auch mehrfach und öffentlich."
Nun tauchte aber just einen Tag nach dieser Aussage von Sabine Schormann ein Großbanner der indonesischen Gruppe Taring Padi auf dem zentralen Friedrichsplatz auf, auf dem zumindest zwei von zweihundert Figurinen eindeutig antisemitische Züge zeigen. Ist es wirklich ein Zufall gewesen, dass dieses Riesenbild erst auftauchte, als die meisten Berichterstatterinnen und Berichterstatter schon wieder abgereist waren? Andererseits blieb das der eindeutigste Fall von Judenfeindlichkeit an den Schauplätzen der Documenta. Und nach drei Tagen wurde das Banner auch wieder abgehängt. Andere Fälle von Israelfeindlichkeit musste man suchen: In palästinensischen Propagandafilmen, in Broschüren in den Bücherschränken des zentralen Ausstellungsorts Fridericianum. Aber es gab sie.
Programmierte Verantwortungslosigkeit
Wer wundert sich eigentlich darüber angesichts eines Kuratorenkollektivs aus einem muslimischen Land? Ruangrupa sind circa zehn Menschen, von denen keiner und keine "den Hut auf hatte". Vielmehr wählten sie nur weitere Kollektive aus, die auf ihren Flächen machen konnten, was sie wollten. Man könnte von programmierter Verantwortungslosigkeit sprechen. So war Farid Rakun von Ruangrupa zur Eröffnung der Documenta im Juni wohl auch gespannt, was letztlich zu sehen sein würde: "Im Grunde hat bereits eine lange Reise vorher stattgefunden. Bei ihr stand der Kollektivgedanke im Zentrum und die Frage, wie dieser in der Welt der Kunst umgesetzt werden kann. Wir haben einfach versucht zu testen, inwiefern unser Kollektivgedanke in anderen Kontexten praktiziert werden kann. Die Einladung zur Zusammenarbeit steht immer noch und wird ständig erweitert. Wir hoffen, dass sich jeder an Kassel mit all seinen positiven Vipes erfreuen kann."
Im Ergebnis waren es dann keine positiven Vipes, sondern eher Verzweiflung bei den Offiziellen vom Bund, vom Land Hessen, von der Stadt Kassel. Ein Abbild davon war zu sehen und zu hören, als eine aktuelle Kultur-Ausschusssitzung des Bundestages in Berlin aufgrund des Antisemitismus-Skandals auf der Documenta nach Verantwortlichen suchte – alle MdBs von der Linkspartei bis zur AfD waren sich einig, dass der- oder diejenige zurücktreten müsse. Letztlich traf es die Geschäftsführerin Schormann, eigentlich für die Finanzen zuständig. Aber am Kollektivorgan Ruangrupa und seiner organisatorischen Anarchie bissen sich deutsche Hierarchieforscherinnen und –forscher eben die Zähne aus.
Worüber nicht diskutiert wurde
Schade ist nach 100 Tagen Documenta allerdings, dass über andere Themen wie den Müllexport von uns nach Afrika, die Unterdrückung der Sinti und Roma auf der ganzen Welt, den ökologischen und sozialen Folgen des Phosphorabbaus und vielen weiteren jetzt nicht mehr diskutiert worden ist. Oder darüber, wie sich so eine Großausstellung anfühlt, so ganz ohne Kunstmarkt-Stars, dafür mit vielen sehr engagierten Menschen aus der südlichen Welthälfte? Oder sollte das – völlig unbemerkt von den Leitartikelschreibern – überhaupt nicht so sein? Die Besucherzahlen der heurigen Documenta waren fast so gut wie vor fünf Jahren, man spricht von einem Minus von 15 Prozent. Vor allem junge Leute sind gekommen und haben mit den Ausstellenden diskutiert. Laut Umfragen spielte für sie das Thema Antisemitismus eine untergeordnete Rolle. Allerdings: Nach dieser Documenta des Dauerstreits wird es in fünf Jahren auf jeden Fall wieder einen oder eine inhaltlich Verantwortliche geben müssen.
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