Gelegentlich schon hat Erhard Dietl, geboren 1953 in Regensburg, über die eigene Kindheit und damit über die Eltern berichtet. Etwa auf seiner CD "Oide Buildl", einer Sammlung mit eigenen Songs über die fromme Großmutter, die Siedlung Margaretenau oder Schwimmabenteuer in der Donau. Jetzt ist diesen Liedern ein Buch gefolgt: "Ein Vater wie meiner" – Autobiographie, Kindheitsergründung, vor allem aber ein Buch über den Vater Eduard, einen hochgradig ambivalenten Menschen.
Familienvater wider Willen
Sein Vater war innerlich zerrissenen, sagt Erhard Dietl in seinem Atelier im Münchner Stadtteil Haidhausen. An den Wänden Plakate und Grafiken, unter anderem von den Olchis, den kleinen grünen Monstern, die er – als Kinderbuchautor und Illustrator – erfunden hat. In einem Regal kleine Roboter-Figuren aus Blech. Am Schreibtisch lehnend die Gitarre, in der Nachbarwohnung Gesangsunterricht.
"Er war eigentlich ein unheimlicher Einzelgänger", erinnert sich Dietl im BR-Interview. "Er wurde plötzlich zum Familienvater, was überhaupt nicht sein Plan gewesen war. Und ich glaube, das hat ihn dann schon ein bisschen überfordert. Und er konnte nie sein ureigen richtiges Leben leben. Er schrammte immer an allem so vorbei und hat versucht, das richtig zu machen. Aber er ist nie glücklich geworden. Weil er – glaube ich – immer etwas gemacht hat, was er nicht wirklich wollte. Oder hat es dann doch gemacht auf Kosten von anderen. Er hat alles immer hinten herum gemacht, heimlich."
Sehnsucht nach einem Lob?
"In ihm war kein Platz für uns", heißt es einmal im Buch "Ein Vater wie meiner". Ein Satz, der sich einprägt. Momente der Nähe gab es vermutlich nur wenige, für Erhard, geboren 1953 in Regensburg, und auch für seine Schwester Beate. Einem Besuch im Regensburger Jahn-Stadion – Spiel gegen die Münchner Löwen, im Tor Radi Radenković – stehen so viele Szenen von Desinteresse und auch Ablehnung gegenüber. Ebenso von Untreue, Verrat, Schulden und Alkohol, leider gelegentlich auch von Gewalt gegen die Kinder. Das Wort "Unbeherrschtheit" findet sich immer wieder in dieser Vater-Sohn-Geschichte. Gab es überhaupt Interesse, Anteilnahme?
"Wir haben uns immer danach gesehnt", so Erhard Dietl. "Und wir haben jede positive Äußerung in uns gespeichert. Ich habe auch lange versucht, ihm zu gefallen. Ich wollte immer auch sein Lob. Aber das Interesse musste man sich schon auch erkämpfen. Man musste auf ihn zugehen. Wir hatten immer unser Problem damit. Jedes Kind will gelobt werden und Anerkennung vom Vater. Aber dem musste man schon hinterher laufen."
Wilde und allseits bekannte Bande: die Olchis, Erhard Dietls berühmte Kinderbuch-Figuren
Eine dunkelgraue, mittelalterliche Stadt
Eindrücklich erzählt Erhard Dietl in seinem neuen Buch von der Zeit, insbesondere von den späten 50er- und 60er-Jahren: eine Kindheit in der Regensburger Siedlung Margaretenau, Cowboy- und Indianer-Spiele, kühne Sprünge in die stets kalte Donau, Pfennigstücke auf den Eisenbahngleisen, plattgefahren, wöchentlich Beichte, Schulstress, Notenkummer und, später, erstes Verliebtsein. Denke er zurück an die Stadt Regensburg in der Kindheit, so Erhard Dietl, habe er immer etwas Dunkelgraues vor Augen.
"Ich sehe Mittelalter", erinnert sich der Autor, Illustrator und Musiker. "Ich sehe eine mittelalterliche Stadt, wo wenig los ist. Natürlich gab es schon Lokale. Es gab viele alte Menschen. Es gab Katholizismus. Wir mussten oft in die Kirche. Dann haben sie erst die Universität gebaut, dann kamen die jungen Leute. Jetzt ist es ganz anders. Jetzt ist es Weltkulturerbe, jetzt sind da keine leeren Gassen mehr. Ich habe andere Erinnerungen. An der Wurschtkuchl, wo jetzt immer unglaublich etwas los ist, saß ich mit meinem Firmpaten fast allein. Das gehörte dazu, dass man nach der Firmung dort Würschtel isst. Und ich habe mich wahnsinnig gelangweilt, weil ich diesen Menschen gar nicht kannte. Ja, viele Erinnerungen. Aber das ist eine andere Stadt inzwischen."
Mit der Kunst in ein eigenes Leben
Mehr und mehr reift im Regensburger Kind die Idee eines eigenen Weges heran, die Abnabelung von Daheim. Die Faszination für die Musik, "Proud Mary" von CCR, wieder und wieder in der Jukebox, die erste eigene Gitarre, eine weiße Höfner. Und die Faszination für das Zeichnen. Erhard Dietl besuchte später in München eine Grafik-Fachschule und – im Anschluss – die Kunstakademie. Bis heute ist er als Illustrator tätig, zeichnet für die eigenen Texte, ebenso für die anderer Kinder- und Jugendbuchautorinnen, etwa Christine Nöstlinger.
"Ich habe eigentlich immer gerne gezeichnet, mir Geschichten ausgedacht, Musik gemacht", erzählt Dietl. "Was wollte ich denn? Ich wollte zeichnen. In meinen Lateinbüchern habe ich Zeichnungen – die sind voller Bilder. Ich habe die Lehrer vorne abgezeichnet und ganze Hefte angelegt mit Lehrer-Karikaturen. Das habe ich lieber gemacht als zu lernen. Ich habe einen Französisch-Lehrer gehabt, der hat jeden Tag eine andere Krawatte angehabt. Das ist mir aufgefallen. Und dann habe ich ein kleines Heft angelegt, mit Krawatten von meinem Französisch-Lehrer. Die habe ich abgezeichnet."
Spion im Auftrag der DDR
Derweil versucht der Vater – groß und übergewichtig – sich als Fotograf selbständig zu machen. Er arbeitet unter anderem an einem Buch über Italien, eine peinliche Affäre mit der Assistentin inklusive. Und er verspricht sich Renommee durch Fotografien von der CSU-Spitze. Die Familie muss nach München ziehen und lebt eine Zeitlang im Süden der Stadt, in Ottobrunn. Später zeigte sich: Der Weggang aus Regensburg geschah nicht ganz aus freien Gründen. Erhard Dietls Vater sollte im Auftrag des DDR-Geheimdienstes Berichte über die CSU verfassen. Ein paar Jahre lang hat er das gemacht, mögliche Akten über das Engagement sind noch nicht erschlossen worden. Erhard Dietl sagt, er selbst wolle das nicht tun.
Er selbst habe das auch erst nach dem Tod des Vaters erfahren: "Das hat mir meine Mutter vorher nie erzählt. Er natürlich auch nicht. Und dann hat sie mir gesagt, dass der das gemacht hat, dass wir sonst auch nie nach München gekommen wären, wenn die damalige DDR uns das nicht finanziert hätte und ihm auch noch ein monatliches Gehalt gegeben hätte, dass er da in der CSU herumspioniert und Briefe schreibt."
Die Olchis als Gegenwelt
Dem künstlerischen Werdegang des Sohnes begegnete der sich zur Kunst berufen fühlende Vater eher mit Desinteresse. Das gilt auch für die Figuren, mit denen Erhard Dietl in unendlich vielen Kinderzimmern zu Gast ist: die Olchis, kleine grüne Monster, die müffeln und die sich überhaupt nicht benehmen. Beim Essen die Füße auf dem Tisch, Schmatzen, Rülpsen, ein reiches Reservoir an Schimpfwörtern. Sie sollen eine große Freiheit verkörpern. Im Denken und im Handeln – und immer verantwortungsvoll. Weit über 40 Olchi-Bücher sind bislang erschienen, es gibt ein Musical, Lieder und einen animierten Film. Eine Art Gegenwelt zur eigenen Kindheit?
"Das ist eigentlich nicht bewusst", antwortet Erhard Dietl. "Das bringe ich eigentlich nicht mit mir selber in Verbindung. Ich denke nur manchmal, die Kinder heute sind so reglementiert und müssen so ordentlich und pünktlich sein – und werden immer kontrolliert. Die brauchen Figuren, die ganz anders sind, die auch einmal in Matschpfützen hüpfen und die nicht pünktlich sind und die alles anders machen – aber total liebevoll sind. Das habe ich aber auch nicht ganz bewusst so zusammen konstruiert. Sondern ich mache so etwas eher aus reiner Intuition heraus, ohne, dass ich mich da hinsetze und frage: Was muss jetzt alles sein?"
Ein Buch in Moll
Eine andere Kindheit als die eigene. Auch mit Blick auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Freiheit, kein Zwang, kein Druck. Und vor allem keine Unbeherrschtheit, mit so fatalen Folgen. Erhard Dietls Buch "Ein Vater wie meiner" führt in eine andere und leider reale Welt. Der Tod des Vaters rahmt den langen Bericht über die Herkunft, den Weg in die Kunst, die schwierige Beziehung zwischen den Eltern. Die Geschichte enthält einige unvorhergesehene Wendungen, sie endet mit einem inneren Frieden und ist trotzdem eine in Moll. Wobei, dann und wann, ist auch Raum für Komik. Etwa mit Blick auf den Plan des Vaters, sich eine lebendige Eule in die mit Schulden finanzierte Bibliothek zu stellen. Diese und all die anderen Geschichten lese man unbedingt selbst.
Erhard Dietls neues Buch "Ein Vater wie meiner"
Erhard Dietls Buch „Ein Vater wie meiner“ ist im Oetinger-Verlag erschienen. Im Mai ist Erhard Dietl mit seinem neuen Buch auf Lesereise in Bayern unterwegs. Am 3. Mai liest er in München, im Buchpalast, am 12. Mai in Mindelheim, zum Allgäuer Literaturfestival. Ende des Monats liest er in Uffing am Staffelsee – und zwischendurch, am 11., in Weingarten, in der Nähe von Ravensburg. Die Gitarre hat er dabei und spielt Lieder bei den Lesungen.
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