Es sind nur wenige Augenblicke, die man leicht übersehen könnte: Beim ersten Auftritt von Charles Aznavour im Film zeigt die Kamera einige Sekunden lang eine vollkommen leere, grell ausgeleuchtete Bühne. Mehdi Idir und Grand Corps Malade, die Regisseure von "Monsieur Aznavour", inszenieren die vielbeschworenen Bretter, die die Welt bedeuten, überzeitlich, in heilig-strahlendem Licht als Vorraum zum Paradies. Die Bühne wird für den jungen Sänger zum safe space, zum Ort der Erlösung, der Verwandlung.
Im weiteren Verlauf des Films werden wir Zeugen, wie Charles Aznavour sich diesen Raum immer wieder aneignet, ihn erobert, wie er ständig an Auftritten feilt, sie gestaltet, mal tänzelnd, mal ergriffen singend. Selbst wenn er sich nach einer TV-Aufzeichnung verurteilt für seine allzu überschwängliche Körpersprache und sich dann auf der Bühne zurücknimmt: Nur dort ist der Künstler er selbst – unantastbar, würdevoll, authentisch, selbst im Scheitern. Die Fallhöhe wird deutlich, wenn Tahar Rahim in der Rolle des Charles Aznavour vor dem Auftritt weissagt: "Heute Abend leb' ich oder sterb' ich."
Charles Aznavour auf der Bühne bei einem Konzert in Oslo 1980.
Die spektakuläre Lebensgeschichte eines Ausnahmekünstlers
"Monsieur Aznavour" erzählt in fünf Kapiteln, die mit Liedtiteln von Aznavour überschrieben sind, die spektakuläre Lebensgeschichte dieses Ausnahmekünstlers. Es ist die Geschichte eines charmanten Aufsteigers, der als armer Außenseiter beginnt und zum Repräsentanten wird, zum Weltstar des französischen Chansons und des savoir-vivre. Aznavour wächst als Kind armer, georgisch-armenischer Einwanderer im Pariser Quartier Latin auf. Immer wieder muss er heftige Diskriminierungen erleiden, Anfeindungen, Ausgrenzung und blanken Rassismus ("Von den Armeniern sagt man ja immer, sie könnten gut rechnen – Aznavour sollte lieber Buchhalter werden").
Obwohl er nicht besonders groß, sein Aussehen nicht gerade schön und seine Stimme nicht voll und rund ist, gelingt es Aznavour, sich über Jahrzehnte als Chansonnier zu behaupten. Tahar Rahim, bekannt aus Jacques Audiards Knastdrama "Ein Prophet", verkörpert Aznavour als Erwachsenen mit lässiger Eleganz. Der Schauspieler singt zwar nicht selbst, stellt aber sensibel und souverän die gewitzten Bühnenauftritte nach, portraitiert den Chansonnier als getriebenen Textdichter.
Der Film übergeht auch nicht Aznavours Schwächen
Aznavour war, was der Film nicht verschweigt, Lebemann und Avantgardist, was das Gelingen einer Patchwork-Familie angeht. Seine Solidarität mit ausgegrenzten Minderheiten hat er selbst als Star nicht vergessen. Das Leid von Homosexuellen und Transvestiten schildert er in großartigen Chansons wie "Comme Ils Disent". Auch die Schwächen dieses Aufsteigers werden nicht übergangen: sein Hang zu herrischem Auftreten im Studio sowie sein unerbittliches Arbeitsethos, was zu einer familiären Katastrophe führt – Momente eines außergewöhnlichen Künstlerlebens, das nach wie vor berührt. Über zwei Stunden dauert der Film, ist dabei aber keine Sekunde zu lang.
Tahar Rahim in der Rolle des Charles Aznavour
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