ARCHIV - 21.05.2019, Nordrhein-Westfalen, Königswinter: Edgar Selge, Schauspieler, steht bei Dreharbeiten zum Fernsehfilm «Berthold Beitz - ein unruhiges Leben» auf Schloss Drachenburg. Am 27.03.2023 feiert er seinen 75. Geburtstag. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Schauspieler und Autor Edgar Selge

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Edgar Selge vergibt Literaturpreis weiter

Der Münchner Autor hat sich entschlossen, den an ihn verliehenen Fuldaer Literaturpreis an vier Jüngere weiterzureichen - ein Versuch, unterschiedliche Generationen ins Gespräch zu bringen.

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Dass man immer aus einem Mangel schreibt, ist eine der stehenden Wendungen von seinem Schwiegervater, die Edgar Selge gern zitiert. Sein Schwiegervater ist der Schriftsteller Martin Walser (96), von dem der Satz stammt: "Nur der hat etwas zu sagen, dem etwas fehlt." Der späte literarische Debütant Selge ergänzt: "Und das ist derselbe Grund, aus dem Menschen lesen. Man liest auch, weil einem etwas fehlt. Eigentlich kann die Fähigkeit zu lesen der des Schreibens durchaus das Wasser reichen. Ich finde, es ist eine große Fantasie-Leistung, sich die Welt eines Autors, die einem in abstrakten Buchstaben entgegentritt, überhaupt erst mal zu eröffnen und zum Leben zu bringen."

Edgar Selge war schon immer der Intellektuelle unter den deutschen Schauspielern, ein Meister der geistigen Durchdringung dessen, was er spielt - ob auf der Bühne oder im Film. "Wahrscheinlich bin ich auf die Bühne gegangen, um Worte aneinanderzureihen. Nicht mehr." So schreibt er es allzu bescheiden in seinem Memoir "Hast du uns endlich gefunden" von 2021.

Vier vielversprechende junge Stimmen

Heute Abend wird der 75-jährige im Münchner Literaturhaus anderen eine Bühne bereiten: vier jungen Autorinnen und Autoren, die allesamt die Bayerische Akademie des Schreibens absolviert haben. Selge selbst war auf einem Seminar dort mal zu Gast. Aus zwanzig Texten hat er die von David Blum, Janina Hecht, Bernhard Heckler und Manon Hopf ausgewählt.

Diese Vier werden je 2500 Euro bekommen, denn Selge gibt den mit 10.000 Euro dotierten Fuldaer Literaturpreis, der ihm 2022 verliehen wurde, weiter. Zu den Gründen für diese Weiterverleihung sagt er dem BR: "Ich war sehr berührt davon, dass ich diesen Preis bekommen habe und habe in Fulda gemerkt, dass das lauter junge Autoren waren, die mir den verliehen haben – Timon Karl Kaleyta, Zsuzsa Bánk, Jan Brandt, Hanna Engelmeier. Mir wurde einmal mehr klar, wie wichtig das ist, so eine Art Unterstützung zu bekommen. Ich habe ja auch einige Preise als Schauspieler bekommen und bin damals nicht auf die Idee gekommen, das Geld weiterzugeben. Hier ist das etwas Anderes."

Literarische Sprache vs. "Verabredungssprache"

Edgar Selge ist heuer eigentlich schon Juror: als alleiniger Juror kürt der in München lebende Schauspieler den Träger des Alfred-Kerr-Darsteller-Preises, so wie er 2022 derjenige war, der die junge Schauspielerin Johanna Kappauf von den Münchner Kammerspielen mit dem Therese-Giehse-Schauspiel-Preis bedachte. Nun fand sich Selge unversehens ein weiteres Mal in der Rolle des Jurors wieder, als er sich entschloss, den ihm verliehenen Fuldaer Literaturpreis an Jüngere weiterzugeben.

So wie Edgar Selges Bestseller "Hast du uns endlich gefunden" der erfolgreiche Versuch war, die Generationen miteinander ins Gespräch zu bringen, so will er auch mit der Weitergabe des Fuldaer Literaturpreises heute Abend im Münchner Literaturhaus als Älterer auf interessante jüngere Stimmen hinweisen.

Diese Vier verbindet bei aller Unterschiedlichkeit nach Selges Meinung doch eines: die Suche nach einem Weltzugang, der sich in einer ganz eigenen Sprache jeweils manifestiert: "Mir erscheint das im Augenblick besonders wichtig, weil wir in einer Zeit leben, in der auf den Verabredungen, die wir treffen, wie wir uns sprachlich ausdrücken wollen in der Öffentlichkeit, eine große Energie liegt im Moment. Die ist auch relativ streng, wir erfahren das ja immer wieder – nicht nur beim Gendern, sondern bei allen möglichen prekären oder sensiblen Themen -, und ich finde das auch in Ordnung, eine Sprache des gegenseitigen Respekts zu entwickeln. Es ist aber so, dass diese Verabredungssprache suggeriert, sie würde uns voll und ganz ausdrücken. Das tut sie nicht. Nicht nur meiner Ansicht nach, das merken viele. Deshalb ist die Literatursprache etwas ganz Wichtiges, weil es um die Komplexität der Erfahrungen von jedem Einzelnen, jeder Einzelnen geht – und dafür gibt es keine fertige Sprache. Die muss gefunden werden, die Erfahrungen müssen umkreist, eingekreist werden, um dann metaphorisch so genau wie möglich ausgedrückt zu werden. Das ist ein spannender Prozess, und ich habe den Eindruck, dass die jungen Schreibenden – also die zwischen 30 und 40 im Augenblick – das sehr genau wissen und spüren.

Feier der Ambivalenz

Die Literatur will Edgar Selge als ein Residuum der Freiheit, der Ambivalenz feiern heute Abend. Gefragt, was er den vier Absolventinnen und Absolventen der Bayerischen Akademie des Schreibens, die er da nun auszeichnet – eine Lyrikerin, drei Prosa-Autorinnen und -autoren – mitgeben kann, antwortet Selge: nichts: "Ich glaube: gar nicht. Ich glaube, mitgeben wird ihnen die Veranstaltung etwas, in der sie selber im Mittelpunkt stehen werden. Und sie sollen erzählen und ich werde versuchen, die Stichworte zu liefern so wie Sie das jetzt machen, darum wird es gehen. Ich habe niemandem etwas mitzugeben, weder als Schauspieler noch als Schreibender, ich kann nur zuhören und Aufmerksamkeit signalisieren."